Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
hat Ihnen das erzählt?«
Er nickte. »Ja. Sie unterstützt unsere kleine Gemeinde von ganzem Herzen.«
Das wunderte mich nicht. Caro Clairmont hat schon immer gewusst, wie man sich unentbehrlich macht. Früher war sie eine von Reynauds glühenden Bibelanhängerinnen, jetzt hat sie einem jüngeren Priester ihre Gefolgschaft angeboten, nämlich Père Henri Lemaître, durch dessen Achtsamkeit und jungenhaft gutes Aussehen der unnahbare Reynaud noch weniger attraktiv wirkt. Ich würde annehmen, dass Karim mit seinem Scheinwerferlächeln für sie eine ähnliche Anziehungskraft besitzt wie der junge Priester.
Was hatte Reynaud gesagt? Dass Caroline sich mit ihrer Morgenkaffeegruppe überworfen hat? Oder sucht sie vielleicht einfach die Gesellschaft von gutaussehenden jungen Männern?
»Und Sie sind mit Ihrer Tochter hier?«
Ich nickte. »Mit meinen Töchtern. Anouk und Rosette. Vielleicht haben Sie die beiden schon gesehen.«
»Wenn ich sie schon gesehen hätte, könnte ich mich bestimmt an sie erinnern.« Es schien fast so, als wollte er mit mir flirten. Ich staunte darüber, wie mühelos er seinen Charme versprühte – keine weitverbreitete Fähigkeit bei den Männern in Les Marauds, würde ich vermuten. Er kam einen Schritt näher. Ich konnte einen Hauch von kif riechen, vermischt mit etwas Dunklem, Süßem – Chypre vielleicht oder Arabischer Weihrauch.
Wusste er, dass seine Schwägerin verschwunden war? Die Familien sind eng verbunden. Aber vielleicht verheimlichten Alyssas Eltern selbst vor Sonia und Karim, dass ihre Tochter fort war?
Wieder überprüfte ich seine Farben. Es gibt nicht viele Menschen, die so hell strahlen. Manche Leute leuchten einfach, ob sie wollen oder nicht, und verdrängen alles andere, dem sie begegnen. Ist das der Grund, weshalb Reynaud ihm misstraut? Oder gibt es da noch etwas anderes?
»Ich würde Ihre Schwester gern kennenlernen«, sagte ich. »Ich habe schon so viel über sie gehört.«
»Ja, gern«, sagte Karim. »Aber Sie müssen wissen, dass Inès extrem schüchtern ist. Sie lebt ganz zurückgezogen. Sie … sie geht nicht gern unter Leute.«
»Aber sie hat doch eine Tochter, oder? Wie heißt sie?«
»Du’a. Das bedeutet ›Ein Gebet‹ auf Arabisch.«
»Wie traurig für die Kleine, dass sie ihren Vater schon so früh verloren hat.«
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Wie gesagt, meine Schwester hatte bisher ein trauriges Leben. Du’a ist ihr Ein und Alles. Ihre Tochter – und natürlich ihr Glaube. Der Glaube bedeutet ihr mehr als alles andere.«
In dem Moment ging die Tür zum Gym erneut auf, und ein Mann in einer weißen djellaba schaute heraus. Ich erkannte ihn: Er war einer der Männer, die ich gleich nach meiner Ankunft in Les Marauds gesehen hatte. Es musste Saïd Mahjoubi sein. Er beachtete mich überhaupt nicht, sondern sagte etwas auf Arabisch zu Karim. Ich verstand die Wörter nicht, spürte aber, dass es etwas Dringendes war. Und es entging mir auch nicht, dass Saïd mich mit strengem Blick musterte und dann wegschaute.
»Entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss gehen«, erklärte Karim. »Ich wünsche Ihnen schöne Tage hier.«
Mit diesen Worten wandte er sich ab, ging zurück ins Gym und schloss die rote Tür hinter sich.
Ich schlenderte zum Boulevard. Die Sonne stand schon ziemlich hoch so spät am Vormittag. Doch befreit von dem Engegefühl, das in der schmalen Gasse aufgekommen war, in der es nach Chlor, kif und Schweiß roch, genoss ich die vergleichsweise frische Luft. Eine leichte Brise wehte vom Fluss herauf, und sie roch nach anderen Orten, nach dem wilden Salbei der Berge, dem Pfefferaroma des Samtgrases, das in den Dünen wächst und im Wind wie verrückt tanzt – und ich begriff, was sich verändert hatte.
Endlich war die Ruhe vorbei.
Der Autan hatte begonnen zu wehen.
4
Freitag, 20. August
Père Henri Lemaître kam heute Vormittag vorbei. Ich hatte ungewöhnlich lang geschlafen und war noch nicht rasiert, als er klingelte. Wie macht er das, père? Hat er einen sechsten Sinn, der ihm sagt, wann ich verletzlich bin? Jedenfalls stand er vor meiner Tür, als die Uhr von Saint-Jérôme gerade Viertel nach neun schlug, und seine Augen strahlten fast (allerdings nicht ganz) so hell wie seine Zähne.
»Du lieber Himmel, Francis, Sie sehen schrecklich aus.«
Ich kann es nicht ausstehen, wenn er mich Francis nennt.
»Danke, das weiß ich selbst am besten«, erwiderte ich. »Welchem Umstand habe ich die Ehre Ihres Besuchs zu
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