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Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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gestochen zu werden, um endlich den Beweis zu erbringen, dass nichts von Dauer ist, dass der Zauber versagen kann, dass alles, worum wir uns bemühen und was wir lieben, am Schluss an derselben leeren Mauer endet?
    War das die Lektion, die ich hier lernen sollte? War ich deswegen nach Lansquenet zurückgekommen?
    »Ich weiß, dass Sie Alyssa bei sich verstecken«, sagte Inès.
    Mich schauderte. Auf einmal war mir ganz kalt.
    »Glauben Sie, ich habe keine Ohren? Glauben Sie, ich kann nichts sehen? Sie denken, weil ich einen niqab trage, passe ich nicht genauso auf wie Sie? Sie denken, weil Sie mich nicht sehen können, merke ich nichts?«
    »Das hat nichts mit dem niqab zu tun«, erwiderte ich. »Und ich verstecke Alyssa nicht. Sie wohnt im Moment bei mir, weil sie das will – bis sie sich entschieden hat, was sie tun möchte.«
    Inès gab ein Geräusch von sich, das wie ein höhnisches Lachen klang. »Sie denken wahrscheinlich, dass Sie ihr dadurch helfen.«
    »Jemand musste ihr helfen«, erwiderte ich. »Sie wollte sich umbringen.«
    Inès fixierte mich mit ihrem grün-goldenen Blick. Unter der abaya wirkt sie sehr graziös, elegant und aufrecht wie eine Tänzerin. Nach ihren wunderschönen Augen zu urteilen, musste sie eine sehr attraktive Frau sein.
    »Sie denken wie ein Kind«, sagte sie. »Ein Mädchen sieht ein junges Vögelchen aus dem Nest fallen. Die Kleine hebt das Vögelchen auf und nimmt es mit nach Hause. Danach gibt es zwei Möglichkeiten: Das Vögelchen stirbt gleich – oder es überlebt ein paar Tage, und die Kleine bringt es dann zurück zu seiner Familie. Doch nun haftet an ihm der menschliche Geruch, und die Vogelfamilie nimmt es nicht mehr an. Das kleine Wesen verhungert, oder es wird von der Katze gefressen. Oder die anderen Vögel picken es zu Tode. Was das Kind, wenn es Glück hat, vielleicht nie herausfindet.«
    Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. »Das ist etwas anderes. Alyssa ist kein kleines Vögelchen.«
    »Ach nein? Als Nächstes erzählen Sie mir noch, sie hat weiter gefastet und sich nicht die Haare abgeschnitten.«
    »Hat Maya Ihnen das erzählt?«
    »Ich brauche kein Kind, um so etwas zu erfahren. Sie denken offenbar, dass Sie die Einzige sind, die etwas sieht.«
    Ich dachte daran, was Alyssa gesagt hatte: dass Inès Bencharki ein amar ist, ein böser Geist in Menschengestalt, der ausgeschickt wird, um die Unschuldigen zu verderben. Diese Bezichtigung kenne ich selbst – auf meinen Reisen habe ich sie immer wieder gehört. Menschen, die Dinge sehen können, Menschen wie wir, werden oft als dunkel und gefährlich empfunden. Meine Mutter hat sich selbst als Hexe bezeichnet. Das war ihr Stil. Ich bin da anders. Das Wort ist überfrachtet mit Geschichte und Vorurteilen. Wer behauptet, dass Wörter keine Macht haben, ahnt nichts von ihrem wahren Wesen. Wenn Wörter richtig eingesetzt werden, können sie eine Regierung stürzen, sie können Zuneigung in Hass verwandeln, eine Religion begründen und sogar einen Krieg auslösen. Wörter sind die Hirten der Lügen, sie führen die Besten zur Schlachtbank.
    Ich sagte: »Meine Mutter war eine Hexe.«
    Inès lachte. »Na, das hätte ich mir ja fast denken können.«
    Und dann wandte sie sich ab, ging hinein – hinter ihr dieser Farbwirbel, wie die Windungen im Inneren einer Murmel – und schloss die Tür hinter sich. Ich stand allein am Ufer des Tannes, der Wind heulte in den Drähten, und es fing wieder an zu regnen.

7

    Dienstag, 24. August
    Mitternacht, und es hat aufgehört zu regnen. Der Himmel ist wie ein wolkiger Achat. Der August-Vollmond – er ist es, der angeblich all unsere Probleme hervorruft, père – sieht aus wie in Lumpen gehüllt, ein reuiger Bittsteller am nächtlichen Horizont. Ich kann nicht schlafen. Meine Finger tun weh. Meine Gedanken sind elektrisch aufgeladen und ruhelos. Ich spüre den morgigen Tag schon wie eine heranrollende Lawine. Die Telefonanrufe, die Besucher, das Unentrinnbare eines Lebens, das ins Wanken geraten ist.
    Der Wind draußen ist erbarmungslos. Er zerrt an mir wie ein ungeduldiges Kind. Mir fällt auf, wie wenig ich eigentlich besitze. Das Haus gehört der Kirche, genau wie das Mobiliar, die meisten Bücher und die Bilder. Ein Leinenrucksack mit einem kaputten Riemen, den ich mitgenommen habe ins Priesterseminar – so viele Jahre ist das her, dass ich sie lieber nicht zählen möchte –, könnte ohne weiteres meine gesamten Habseligkeiten aufnehmen. Was habe ich außer den

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