Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Priestergewändern, die ich selbstverständlich hierlassen werde? Ein paar Hemden, eine Jeans, drei T-Shirts, Socken, Unterwäsche. Einen dicken handgestrickten Pullover, den ich im Winter anziehe, wenn es wirklich kalt ist. Einen Schal. Eine Mütze. Eine Zahnbürste. Einen Kamm. Die Werke des Augustinus, die Sie mir geschenkt haben, als ich noch ein Junge war. Die Uhr meines Vaters. Ihren Rosenkranz mit den grünen Glasperlen, ziemlich billig, aber ich mag ihn. Einen braunen Briefumschlag mit Fotos, Papieren und Dokumenten. Ein bisschen Geld, nicht viel. Fünfundvierzig Jahre, sauber in einen Rucksack verpackt.
Aber warum habe ich das getan, père? Es ist absurd. Ich gehe nirgends hin. Zunächst einmal: Ich wüsste gar nicht, wohin. Es ist mitten in der Nacht. Es regnet. Und trotzdem sehe ich mich selbst, wie ich zur Tür hinausgehe, den Rucksack über der Schulter. Ich lasse den Schlüssel in der Haustür stecken, mache das Gartentor hinter mir zu. Gehe die menschenleere Straße entlang, in meinem Mantel und den Wanderstiefeln, spüre den Himmel über mir. Der Himmel muss sich anders anfühlen für einen Menschen, der kein Zuhause hat. Auch die Straße muss sich anders anfühlen. Härter unter den Füßen, irgendwie. Meine Stiefel sind gut eingelaufen und bequem. Ich kann stundenlang gehen, ehe ich mir überlegen muss, was ich als Nächstes tun soll.
Mon père, es ist sehr verlockend. Dass jeder Schritt mich weiter von Père Henri Lemaître entfernt. Keine Pflichten zu haben, keine Entscheidungen treffen zu müssen, außer zu überlegen, wo ich schlafe, was ich esse, ob ich rechts oder links abbiege. Alle Wünsche aufzugeben und mich den Launen des Universums anzuvertrauen –
Den Launen des Universums?
Tja, mon père, ich weiß natürlich, dass Gott einen Plan hat. Aber in den letzten Jahren fällt es mir immer schwerer, daran zu glauben, dass dieser Plan so umgesetzt wird, wie Er ihn sich ausgedacht hat. Je länger ich jetzt überlege, desto mehr erscheint mir Gott wie ein gestresster Bürokrat, der durchaus helfen möchte, aber durch zu viel Papierkram und zu viele Sitzungen lahmgelegt ist. Wenn Er uns überhaupt sieht, père, dann von hinter einem Schreibtisch, der vollgepackt ist mit Buchhaltungsunterlagen und unerledigten Anträgen. Deshalb hat Er ja auch Priester, die seine Arbeit für Ihn machen, und Bischöfe, die diese Priester beaufsichtigen. Ich bin Ihm auch gar nicht böse. So ist das eben – wenn man mit zu vielen Bällen jonglieren will, dann geht auch mal einer verloren.
Irgendwie hat mir der Wind den Kopf freigepustet. In der Geschichte gibt es unzählige Erzählungen von Männern, die das konventionelle Leben aufgegeben haben, um unterwegs zu sein. Mein Namensbruder, der heilige Franziskus, ist einer von ihnen. Vielleicht gehe ich nach Assisi.
Ich muss kurz eingedöst sein, père. Als ich wieder aufwachte, waren meine Gelenke wie eingerostet. Mein Rucksack stand neben der Haustür. Erst konnte ich mich gar nicht daran erinnern, dass ich ihn dort abgestellt hatte, weil ich ja noch halb schlief. Dann fiel es mir wieder ein, und ich bekam Angst. Die Gewissheiten der vergangenen Stunden verschwanden, als der Morgen dämmerte. In der Früh gehe ich normalerweise als Erstes zu Poitou in die Bäckerei und hole mir ein Croissant oder ein pain au chocolat. Heute nicht. Ich wollte nicht, dass Poitou im ganzen Dorf über mich tratscht, und außerdem, wenn ich in die Bäckerei gehe, könnte ich vielleicht in Versuchung geraten, lieber hierzubleiben, nachdem ich mich doch schon entschlossen habe wegzugehen.
Ich machte mir eine Tasse Kaffee und toastete eine Scheibe altes Brot. Es roch besser, als es schmeckte, aber das genügte, um mich daran zu erinnern, wie hungrig ich war. Ich komme nicht mehr so lange ohne Essen aus wie früher, père. Ich halte nicht einmal mehr die Fastenzeit ein. Aber wenn ich von hier weggehe, sagte ich mir, dann muss ich mich an den Hunger gewöhnen. Der heilige Franziskus aß bekanntlich Beeren und Wurzeln. Ich nehme an, das hat ihm genügt. Aber mir fiele es auf Dauer schwer, auf mein Frühstückscroissant zu verzichten.
Ich blickte zum Himmel. Er war noch dunkel und würde erst in einer Stunde hell werden. Ich wollte nicht, dass mich jemand sah, vor allem nicht die Leute aus Les Marauds, die ihre Morgengebete verrichteten. Ich wusste, dass ich ihnen über den Weg laufen würde, wenn ich dem Fluss folgte. Und das schien der vernünftigste Plan zu sein, jedenfalls bis ich
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