Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
egal, wie weit du dich entfernst. Und weil ich mehr sehe, als ich sehen will. Dabei wäre ich lieber blind.
»Ist es wegen Joséphine? Vertraust du mir nicht?«
»Ich weiß auch nicht.«
Erneutes Schweigen. Wie eine Leinwand mit lauter tanzenden Schatten. Dann sagte er: »Okay, Vianne. Ich hoffe nur, die Sache ist es wert«, und ich blieb allein zurück, mit dem Rauschen des Meers im Ohr, wie die Brandung in einer Muschel.
Ich schüttelte den Kopf. Mein Gesicht war nass. Von der Kälte waren meine Fingerspitzen ganz taub. Alles meine Schuld, sagte ich mir. Ich hätte an dem Tag in Paris nicht den Wind rufen sollen. Es fühlt sich so harmlos an, nicht wahr? So mühelos und natürlich. Doch der Wind weht, wo er will, er kann jederzeit die Richtung wechseln und pustet die kleinen Dinge, die wir uns aufgebaut haben, davon.
Hat Armande das vorhergesehen? Wusste sie von Roux und Joséphine? Hat sie geahnt, dass ihre Briefbombe mein Leben mit Roux in die Luft jagen würde? Das passiert eben, wenn man einen Brief aus dem Totenreich öffnet. Da ist es doch besser, niemals zurückzublicken und keine Schatten zu werfen, wie Roux.
Aber dafür ist es längst zu spät. Ich glaube, Armande hat das ebenfalls gewusst. Warum bin ich nach Lansquenet zurückgekommen? Warum muss ich der Frau in Schwarz gegenübertreten? Aus dem gleichen Grund, aus dem der Skorpion den Wasserbüffel gestochen hat, obwohl er wusste, dass sie beide sterben würden. Weil wir keine andere Wahl haben, sie und ich. Weil wir miteinander verbunden sind.
Es hat aufgehört zu regnen, aber der Wind weht stärker denn je – klagend zupft er an den Telefonleitungen. Eine Totenklage. So bekommt der Schwarze Autan eine Stimme. Vielleicht steckt darin auch eine Botschaft. Was hast du erwartet, Vianne? Dachtest du, ich lasse dich einfach so gehen? Hast du geglaubt, ich erlaube dir, für immer jemand anderem zu gehören?
Ich verließ den Boulevard des Marauds und ging zu dem alten Anlegesteg, wo das schwarze Hausboot vertäut war, umgeben von Bäumen mit entblößten Wurzeln. So nah am Ufer ist das Boot geschützt, aber nur ein paar Meter weiter hat sich der Tannes in ein tobendes, unbezähmbares Monster verwandelt. Auf der Wasseroberfläche treibt unglaublich viel Müll. Eine tödliche Kombination aus Zweigen und Abfall, die durch Kabel und Draht verbunden sind. Jetzt dort zu schwimmen wäre extrem unklug, selbst die flachen Stellen sind heimtückisch. Wenn Alyssa gestern Nacht von der Brücke gesprungen wäre und nicht vor sechs Tagen, hätte sie niemals überlebt. Genauso wenig wie Reynaud, nebenbei bemerkt. Ich näherte mich dem Boot noch ein kleines Stück und rief: »Inès Bencharki?«
Ich wusste, dass sie zu Hause war. Vorsichtig ging ich noch einen Schritt weiter. Der Wind blies mir die Haare ins Gesicht. Der Boden unter meinen Füßen war mit Wasser getränkt.
»Inès?«
Ich stellte mir vor, dass sie mich von ihrem Versteck aus beobachtete, mit wilden, argwöhnischen Augen. Ich hätte ein Geschenk für sie mitnehmen sollen. Aber es sind fast keine Pfirsiche mehr da, und außerdem habe ich keine Ahnung, welche Art von Annäherung bei ihr funktionieren könnte. Unter ihrem Schleier verbirgt Inès verschiedene Gesichter. Für Omi einen Skorpion, für Zahra eine Freundin, für den alten Mahjoubi eine Unruhestifterin, für Alyssa eine Bedrohung –
Und für Karim?
Noch einmal rief ich ihren Namen. Jetzt glaubte ich zu hören, wie sich im Hausboot etwas bewegte. Und tatsächlich öffnete sich die Tür zur Kombüse. Eine Gestalt mit niqab erschien.
»Was wollen Sie?« Die Frau hatte eine tiefe Stimme und so gut wie keinen Akzent, aber trotzdem klangen ihre Worte irgendwie unharmonisch, wie Musik, die in der falschen Tonart gespielt wird.
»Hallo, ich bin Vianne Rocher«, sagte ich und streckte ihr die Hand hin.
Sie rührte sich nicht. Ihre Augen über dem Stoffquadrat waren pechschwarz. Ich sagte den Spruch auf, den ich mir vorher zurechtgelegt hatte: dass ich früher in der Chocolaterie gewohnt hätte, dass ich jetzt zu Besuch in Les Marauds sei und ihr und Du’a helfen wolle.
Inès hörte mir wortlos zu. Das Deck, auf dem sie stand, war so niedrig, dass es aussah, als stünde sie auf dem Wasser. Hinter ihr sah man die Gischt des Flusses aufsteigen. Die Frau hätte ein Geist sein können – oder eine Hexe.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte sie schließlich. »Sie sind eine Freundin des Priesters, Reynaud.«
Ich lächelte. »Wir kennen uns schon
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