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Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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sehr lange, Reynaud und ich. Aber wir waren nicht immer befreundet. Im Gegenteil – er hat früher sogar versucht, mich von hier zu vertreiben.«
    Ihr Blick zeigte keine Reaktion. Ihre Hände in den schwarzen Handschuhen, blieben ruhig an ihrer Seite. Auch ihre Füße waren unter der abaya verborgen. Bis auf ihre ausdruckslosen Augen hätte sie eine Sinnestäuschung sein können, ein Phantom, unter dem niqab nichts als Luft.
    »Einige Leute sagen, er hat das Feuer gelegt. Aber das stimmt nicht«, erklärte ich ihr. »Reynaud ist ein anständiger Kerl, trotz seiner Fehler. Er ist kein Duckmäuser und auch kein Feigling. Der Mensch, der das Haus angezündet hat, ist beides. Und jetzt gibt man ihm die Schuld.«
    »Sind Sie deswegen hergekommen? Um ihn zu verteidigen?«
    »Ich dachte, Sie brauchen vielleicht Unterstützung«, entgegnete ich.
    »Vielen Dank. Ich brauche keine Hilfe.« Ihre Stimme war flach.
    »Sie leben auf einem Boot«, sagte ich.
    »Na und? Was ist schon dabei, auf einem Boot zu leben? Glauben Sie mir, da habe ich Schlimmeres durchgemacht. Hier hat man es bequem, ganz anders als da, wo ich herkomme. Das Leben ist einfach, man verweichlicht und wird faul.« Vor lauter Verachtung redete sie immer lauter und kniff die Augen über dem Schleier zusammen. Und jetzt konnte ich endlich ihre Farben sehen, wie sie in dem dämmrigen Licht aufflackerten und ihrer schlichten schwarzen abaya eine Hülle aus hell schillernder Seide verliehen. Instinktiv griff ich nach ihren Gedanken und schaffte es, ein paar zu erobern. Es war ein Korb mit feuerroten Erdbeeren, ein Paar gelbe Hausschuhe, ein Armband aus pechschwarzen Perlen, das Gesicht einer Frau im Spiegel. Und Seidenstoffe, buntbestickte Seide, Gaze, wie ein Spinnennetz mit Tau, ein Chiffontuch mit Kristallen, weiß wie ein Hochzeitskleid, goldgelb wie Safran, violett wie Maulbeeren, Waldesgrün –
    So viele Farben! Sehr befremdlich. Ohne die Farben wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass sie und Karim verwandt sein könnten. Aber man braucht nur an der Oberfläche zu kratzen, da zeigen sie sich schon, die Farben, die man nicht verbergen kann.
    Sie zuckte zurück. Es war, als hätte ich sie auf verbotene Weise berührt. Wütend riss sie die Augen auf, und jetzt sah ich auch deren Farbe – ein Grün, so dunkel, dass man es fast für Schwarz halten konnte, und in dem ein Tropfen Gold aufgelöst worden war.
    Sie rief: »Hören Sie auf!«
    Ich hob die Hand. »Es ist alles in Ordnung, Inès. Ich verstehe.«
    Sie lachte. Ein klirrender, unmelodischer Ton. »Ach, glauben Sie das wirklich? Dass Sie verstehen, was los ist? Nur weil Sie ein bisschen mehr sehen als die ganzen Blinden hier?«
    »Ich bin aus einem bestimmten Grund nach Lansquenet gekommen«, sagte ich. »Und zwar, weil ich einen Brief aus dem Totenreich erhalten habe. Und darin stand, dass ich hier gebraucht werde. Und dann habe ich Sie gesehen.«
    »Und dann?«, rief Inès. »Dann haben Sie gedacht: eine arme, unterdrückte muslimische Frau mit niqab, ein Opfer der kuffar, der Ungläubigen? Eine verängstigte Witwe, die jedes Freundschaftsangebot annimmt, egal, wie herablassend es ist? Oder jede Praline? Ja, ich weiß alles über Sie, Vianne«, fuhr sie fort, als sie meine Überraschung sah. »Ich weiß, Sie sind vor acht Jahren hierhergekommen und haben mit Ihrem Charme alle dazu gebracht, Sie zu lieben – sogar diesen widerlichen Priester. Denken Sie wirklich, ich habe das noch nicht gehört? Denken Sie wirklich, Karim hat es mir nicht erzählt? Und diese Frau aus dem Café, sie redet ja die ganze Zeit nur von Ihnen. Genauso wie die alte Frau mit dem Hund und Poitou, der Bäcker, und der Blumenverkäufer Narcisse. Wenn die über Sie reden, klingt das, als würden sie über einen Engel reden, der vom jannah gekommen ist, um uns zu retten. Und jetzt haben sich Fatima Al-Djerba und ihre Mutter ebenfalls angesteckt – ach, wie sie alle die Pralinenfrau lieben, diese Frau, die denkt, sie versteht unsere Kultur, weil sie vor vielen Jahren mal in Tanger war.«
    Schweigend hörte ich ihr zu. Ihr abgrundtiefer Hass verblüffte mich. So hatte ich mir unsere erste Begegnung nicht vorgestellt – dass sich die Schleusen sofort öffnen und das ganze Gift herausströmen würde. Ein Skorpion, hatte Omi gesagt. Und jetzt ertrank ich. Schlimmer noch, ich war ganz allein daran schuld. Der Büffel in der Fabel ist genauso ein Opfer seines Wesens wie der Skorpion. Und hat sich ein Teil von mir nicht danach gesehnt,

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