Himmlische Wunder
zwischendurch immer wieder ein, während draußen der Wind tobte und unter die Dachziegel sauste und an den Fensterläden rüttelte.
Um vier hörte ich, dass sich in Anouks Zimmer etwas bewegte. Ich ging zu ihr: Sie saß auf dem Fußboden, in einem schlecht gezogenen gelben Kreidekreis. Eine Kerze brannte neben ihrem Bett, eine zweite bei Rosettes Bettchen, und in dem warmen Licht sah sie rosig und erhitzt aus.
»Wir haben es geschafft, Maman«, sagte sie mit leuchtenden Augen. »Wir haben es geschafft. Wir können bleiben.«
Ich setzte mich zu ihr auf den Fußboden. »Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe dem Wind gesagt, dass wir hierbleiben. Er soll jemand anderes mitnehmen, habe ich ihm gesagt.«
»So einfach ist das nicht, Nanou«, sagte ich.
»Doch«, widersprach Anouk. »Und da ist noch etwas.« Sie schenkte mir ein herzzerbrechend süßes Lächeln. »Kannst du ihn sehen?« Sie deutete auf etwas in der Zimmerecke.
Ich runzelte die Stirn. Da war nichts. Oder besser, fast nichts. Ein flüchtiges Flackern – der Abglanz des Kerzenlichts auf der Wand –, ein Schatten, vielleicht Augen, ein Schwanz …
»Ich sehe nichts, Nanou.«
»Er gehört Rosette. Der Wind hat ihn gebracht.«
»Ah, verstehe.« Ich lächelte. Manchmal ist Anouks Fantasie so ansteckend, dass ich mich fast mitreißen lasse und Dinge sehe, die nicht da sein können.
Rosette streckte die Ärmchen aus und maunzte.
»Es ist ein Affe«, sagte Anouk. »Er heißt Bamboozle.«
Ich musste lachen. »Ich weiß nicht, wie du immer auf solche Ideen kommst.« Aber ich fühlte mich nicht ganz wohl bei der Sache. »Du weißt, es ist nur ein Spiel, stimmt’s?«
»Nein, nein, er ist wirklich da«, versicherte mir Anouk strahlend. »Sieht du, Maman? Rosette kann ihn auch sehen.«
Am Morgen hatte sich der Wind wieder gelegt. Ein schlimmes Unwetter, sagten die Leute, ein Sturm, der Bäume ausgerissen und Scheunen dem Erdboden gleichgemacht hatte. Die Zeitung schrieb von einer Tragödie und berichtete, dass am Silvesterabend ein Ast auf einen Wagen gestürzt sei, der durchs Dorf fuhr. Fahrer und Beifahrerin waren sofort tot. Einer von beiden war ein Priester aus Rennes.
Die Hand Gottes , meinte die Zeitung.
Anouk und ich wussten es besser.
Es war ein Unfall , wiederholte ich, als sie in unserer winzigen Wohnung im Boulevard de la Chapelle Nacht für Nacht weinend aufwachte. Anouk, das gibt es alles doch gar nicht , sagte ich. Unfälle passieren eben. Was anderes war es nicht .
Mit der Zeit glaubte sie mir. Die Albträume hörten auf. Sie wirkte wieder zufrieden und glücklich. Aber da war immer noch etwas in ihren Augen. Etwas, das ich bei meinem Sommerkind vorher nicht gesehen hatte. Es war älter, weiser, fremder. Und Rosette, mein Winterkind, schien immer mehr in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen zu sein. Sie weigerte sich, so zu werden wie andere Kinder, sie redete nicht, sie lief nicht und beobachtete alles mit diesen Tieraugen …
Waren wir schuld daran? Die Logik spricht dagegen. Aber so wie es aussieht, reicht die Logik nur bis zu einem bestimmten Punkt. Und jetzt ist dieser Wind wieder da. Und wenn wir seinem Ruf nicht folgen, wen wird er sich dann an unserer Stelle aussuchen?
Auf der Butte de Montmartre gibt es keine Bäume. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber der Dezemberwind riecht trotzdem nach Tod. Auch noch so viele Räucherstäbchen können seine dunkel verführerische Kraft nicht mildern. Dezember wird immer die Zeit der Finsternis sein, die Zeit der heiligen und der unheiligen Geister, die Zeit der Feuer, die man gegen das Schwinden des Lichts entzündet. Die Julgötter sind streng und kalt, Persephone ist in der Unterwelt gefangen, und der Frühling ist ein Traum, der noch eine ganze Ewigkeit entfernt ist.
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent –
V’là l’bon vent, ma mie m’appelle –
Und durch die leeren Straßen von Montmartre ziehen noch immer die Wohlwollenden und schreien trotzig ihren Widerstand gegen die Jahreszeit des guten Willens heraus.
2
D IENSTAG , 11 . D EZEMBER
Danach war alles ganz einfach. Sie erzählte mir ihre kleine Geschichte von Anfang bis Ende: die Chocolaterie in Lansquenet, der Skandal, die Frau, die starb, dann Les Laveuses, Rosettes Geburt und der vergebliche Versuch der Wohlwollenden, sie zu entführen.
Das ist es also, wovor sie Angst hat. Armes Kind. Glauben Sie ja nicht, dass ich vollkommen herzlos bin, nur weil ich immer meinen eigenen Vorteil verfolge. Ich hörte mir
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