Himmlische Wunder
dadurch wirkt sie noch mehr wie eine Tonne und noch ungeschickter und trauriger, und keiner sieht, dass sie eine wunderschöne Haut hat – ganz im Gegensatz zu Chantal mit ihren tausend Pickeln – und dass ihre Haare dicht und lockig sind und glänzen und dass sie selbst auch hübsch sein könnte, wenn sie die richtige Haltung hätte –
»Du musst es mal ausprobieren«, sagte ich zu ihr. »Glaub mir, du wirst dich wundern.«
»Was soll ich ausprobieren?«, fragte Mathilde, als wollte sie sagen: Warum verplemperst du eigentlich deine Zeit mit mir?
Also sagte ich ihr, was Zozie mir gesagt hatte. Sie hörte mir aufmerksam zu und vergaß dabei ganz, auf den Boden zu gucken.
»Das kann ich doch nicht!«, sagte sie schließlich, aber ich merkte, dass ihre Augen hoffnungsvoll schimmerten, und heute Morgen an der Bushaltestelle dachte ich, sie sieht irgendwie anders aus, aufrechter und selbstbewusster, und zum ersten Mal, seit ich sie kenne, hatte sie etwas an, das nicht schwarz war. Es war ein normaler Pulli, aber er war dunkelrot und nicht übertrieben weit, und ich sagte: »Das sieht gut aus«, und Mathilde machte ein ganz verwirrtes Gesicht, aber sie schien zufrieden, und zum ersten Mal ging sie lächelnd in die Schule.
Trotzdem fühlt es sich komisch an, plötzlich, na ja, nicht direkt beliebt zu sein, aber so was Ähnliches, und von den Leuten anders angeschaut zu werden, ihre Art zu denken beeinflussen zu können –
Wie konnte Maman das je aufgeben? Ich würde sie gern fragen, aber ich weiß, das geht nicht. Ich müsste ihr von Chantal und Co. erzählen, von den Püppchen, von Claude und Mathilde, von Roux, von Jean-Loup.
Jean-Loup war wieder in der Schule. Er sah ein bisschen blass aus, war aber ganz guter Laune. Anscheinend hatte er nur eine Erkältung, aber seine Herzschwäche macht ihn superempfindlich, und sogar eine Erkältung kann gefährlich sein. Aber heute war er also wieder da, machte Fotos und betrachtete die Welt durch seine Kamera.
Jean-Loup fotografiert alle Leute, die Lehrer, den Hausmeister, die Schüler, mich. Er macht das ganz schnell, so dass niemand mehr ändern kann, was er gerade macht, und manchmal bringt ihn das in Schwierigkeiten – vor allem bei den Mädchen, die sich gern in Pose werfen und sich hübsch machen wollen.
»Und damit ruinieren sie das Foto«, sagte Jean-Loup.
»Wieso?«, fragte ich.
»Weil eine Kamera mehr sieht als das bloße Auge.«
»Sieht sie auch Geister?«
»Klar sieht sie auch Geister.«
Das ist komisch, dachte ich, aber er hat total recht. Er redet im Grunde über den Rauchenden Spiegel und wie er einem Dinge zeigen kann, die man normalerweise nicht sieht. Dabei kennt er die alten Symbole gar nicht. Aber vielleicht macht er schon so lange Fotos, dass er Zozies Konzentrationstrick gelernt hat – die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, und nicht so, wie die Leute sie gern hätten. Deshalb mag er den Friedhof, er sucht nach Phänomenen, die das Auge nicht wahrnimmt. Nach Geisterlichtern, nach der Wahrheit und solchem Zeug.
»Wie sehe ich deiner Meinung nach aus?«
Er ging seine Bilder durch und zeigte mir eine Aufnahme von mir, die er in der Pause gemacht hatte, als ich gerade auf den Hof hinaus rannte.
»Es ist ein bisschen verschwommen«, sagte ich – meine Arme und Beine waren von der Bewegung ganz unscharf –, aber mein Gesicht war okay, und ich lachte.
»Das bist du«, sagte Jean-Loup. »Ein sehr schönes Bild.«
Na ja, ich wusste nicht, ob er eingebildet war auf seine Kunst oder ob es ein Kompliment sein sollte, also ging ich nicht weiter darauf ein und schaute mir lieber die anderen Fotos an.
Da war Mathilde, traurig und dick, aber darunter sah sie wirklich sehr hübsch aus, und Claude, der ohne jedes Stottern mit mir redete, und Monsieur Gestin mit einem lustigen, ungewohnten Gesichtsausdruck, als würde er sich bemühen, streng auszusehen, während er innerlich kichern musste; und dann noch ein paar Fotos aus der Chocolaterie , die er noch nicht auf den Computer überspielt hatte. Er klickte sie so schnell durch, dass ich sie gar nicht richtig erkennen konnte.
»Halt, Moment mal!«, sagte ich. »War das nicht Maman?«
Es war Maman, mit Rosette. Ich fand, dass sie alt aussah, und Rosette hatte sich bewegt, so dass man ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte. Und dann entdeckte ich Zozie neben ihr – aber sie sah gar nicht aus wie Zozie, ihre Mundwinkel hingen nach unten, und mit ihren Augen stimmte auch irgendetwas
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