Himmlische Wunder
keine andere Wahl –
Damit war die Entscheidung gefallen. Noch am selben Abend packte ich meine Sachen für eine Reise ohne Rückfahrkarte. Ich nahm ihren Pass mit und meinen eigenen, ein paar Kleidungsstücke, ein bisschen Geld, ihre Kreditkarten, ihr Scheckbuch und die Schlüssel für den Laden. Man mag es sentimental nennen, aber ich steckte auch einen ihrer Ohrringe ein – ein kleines Paar Schuhe – und hängte ihn später als Talisman an mein Armband. Seither sind noch einige hinzugekommen. Jeder Glücksbringer ist eine Art Trophäe, eine Erinnerung an eins der vielen Leben, die ich gesammelt und mit denen ich mein eigenes bereichert habe. Damals hat es angefangen. Mit einem Paar Silberschuhe.
Dann schlich ich auf Zehenspitzen nach unten, zündete ein paar Feuerwerkskörper an, die ich noch am Nachmittag gekauft hatte, und warf sie zwischen die Bücherstapel, bevor ich lautlos den Laden verließ.
Ich blickte nicht zurück. Das war nicht nötig. Meine Mutter schlief immer sehr tief, und außerdem hätte die Mischung aus Baldrian und Lattich, die ich ihr in den Tee gegeben hatte, selbst den unruhigsten Schläfer ruhiggestellt. Scott und seine Freunde würde man als Erste verdächtigen – auf jeden Fall so lange, bis sich bestätigte, dass ich tatsächlich verschwunden war, aber bis dahin wollte ich längst über alle Berge sein.
Für Anouk milderte ich die Geschichte entsprechend ab, zum Beispiel erwähnte ich weder das Armband noch die schwarze Piñata oder meinen flammenreichen Abschied. Ich entwarf ein rührendes Bild von mir selbst, wie ich allein und unverstanden durch die Straßen von Paris irrte, ohne Freunde, gequält von Schuldgefühlen, ohne richtige Unterkunft, ohne jede Unterstützung, nur ausgestattet mit Magie und Intelligenz.
»Ich musste zäh sein. Ich musste tapfer sein. Es ist nicht leicht, wenn man mit sechzehn ganz auf sich selbst gestellt ist, aber ich habe es irgendwie geschafft, mich durchzusetzen, und mit der Zeit habe ich begriffen, dass es zwei Kräfte gibt, die uns antreiben können. Zwei Winde, wenn du so willst, die in entgegengesetzte Richtungen blasen. Der eine Wind trägt dich zu den Dingen, die du willst. Der andere entfernt dich von den Dingen, die du fürchtest. Und Menschen wie wir müssen eine Entscheidung treffen. Ob wir den Wind für unsere Zwecke nutzen oder ob wir uns von ihm herumpusten lassen.«
Und jetzt endlich, da die Piñata aufgeplatzt ist und ihren Reichtum über die Gläubigen ausschüttet, kommt die Belohnung, auf die ich so lange gewartet habe, und mit diesem Ticket bekomme ich nicht nur ein Leben, sondern zwei –
»Für welche Alternative möchtest du dich entscheiden, Nanou?«, sagte ich. »Für die Angst oder für die eigenen Ziele? Für den Hurakan oder für Ehecatl? Für den Zerstörer oder für den Wind der Veränderung?«
Sie fixiert mich mit ihren blaugrauen Augen, die mich an eine Gewitterwolke erinnern, die sich demnächst öffnen wird. Durch den Rauchenden Spiegel kann ich sehen, wie ihre Farben in den wildesten Violett- und Blautönen schillern.
Und jetzt sehe ich noch etwas anderes. Ein Bild, eine Ikone, dargeboten mit einer Klarheit, zu der ein elfjähriges Kind eigentlich gar nicht fähig ist. Ich sehe das Bild nicht einmal eine Sekunde lang vor mir, aber das genügt schon. Es ist die Weihnachtskrippe auf der Place du Tertre, die Mutter, der Vater, das Kind im Stall.
Aber in der Version, die ich sehe, trägt die Mutter ein rotes Kleid, und die Haare des Vaters sind ebenfalls rot –
Und endlich dämmert es mir. Deshalb will sie unbedingt dieses Fest feiern, deshalb widmet sie sich mit solcher Hingabe den kleinen Wäscheklammerpüppchen im Adventshaus und stellt sie so sorgfältig und umsichtig auf wie bei einem richtigen Fest.
Man braucht sich nur Thierry anzusehen. Er steht draußen vor dem Haus und spielt in dieser seltsamen Inszenierung keine Rolle. Dann sind da die Besucher: die drei Weisen, die Hirten, die Engel. Nico, Alice, Madame Luzeron, Jean-Louis, Paupaul, Madame Pinot. Sie dienen als der griechische Chor, sie unterstützen die Familie. Dann die zentrale Gruppe. Anouk, Rosette, Roux, Vianne –
Was hat Anouk bei unserer ersten Begegnung zu mir gesagt?
Wer ist gestorben? Vianne Rocher.
Ich habe das als Scherz verstanden, als den Versuch eines Kindes, die Erwachsenen zu provozieren. Aber jetzt, da ich Anouk etwas besser kenne, sehe ich, wie ernst diese scheinbar nebenbei dahingesagten Worte gemeint waren. Der
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