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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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verpacken.
    Ich ließ mir Zeit mit Schere und Band, strich das blassblaue Geschenkpapier mit den Fingerspitzen glatt, machte mit silbernem Band eine Doppelschleife und steckte noch eine Papierrose hinein.
    »Hat jemand Geburtstag?«, fragte ich.
    Laurent knurrte wie üblich – grrmpf! – und klaubte das nötige Kleingeld zusammen. Er hat mich noch gar nicht darauf angesprochen, dass ich jetzt hier arbeite, aber ich weiß natürlich, dass er sich ärgert. Als ich ihm die Pralinenschachtel überreichte, bedankte er sich mit übertriebener Höflichkeit.
    Mir ist sonnenklar, was Laurents plötzliches Interesse an als Geschenk verpackten Pralinen bedeutet. Mit dieser trotzigen Geste will er demonstrieren, dass an Laurent Pinson mehr dran ist, als das Auge sieht, und er möchte mich warnend darauf hinweisen, dass über kurz oder lang eine andere meinen Platz einnehmen wird, wenn ich so dumm bin, seine Avancen zu ignorieren.
    Meinetwegen kann gern eine andere davon profitieren. Ich entließ ihn mit einem fröhlichen Lächeln – und mit dem Spiralzeichen des Hurakan, das ich mit dem Fingernagel in den Deckel seiner Pralinenschachtel ritzte. Es ist nicht so, dass ich Laurent irgendwie Schaden zufügen will – obwohl ich zugeben muss, dassich nicht besonders traurig wäre, wenn ein Blitz in das Café einschlagen würde oder ein paar Gäste eine Lebensmittelvergiftung bekämen und die Restaurantleitung anzeigen würden. Ich habe keine Zeit, mich vernünftig mit ihm auseinanderzusetzen, und dass mir ein verliebter Siebzigjähriger nachsteigt und mich bei meiner Arbeit stört, ist im Moment so ziemlich das Letzte, was ich brauchen kann.
    Ich drehte mich um, als er gegangen war, und sah, dass Yanne die Szene verfolgt hatte.
    »Laurent Pinson kauft Pralinen?«
    Ich grinste. »Ich habe dir doch gesagt, dass er hinter mir her ist.«
    Yanne lachte, dann wurde sie verlegen. Rosette lugte hinter ihrem Knie hervor, in der einen Hand einen Holzlöffel, in der anderen irgendetwas Geschmolzenes. Sie machte mit ihren Schokoladenfingern ein Zeichen.
    Yanne gab ihr eine Makrone.
    Ich sagte: »Die selbst gemachten Pralinen sind ausverkauft.«
    »Ich weiß.« Jetzt grinste sie vergnügt. »Das heißt, ich muss noch mehr machen, oder?«
    »Ich helfe dir gern, wenn du willst. Dann kannst du dich mal ausruhen.«
    Sie überlegte, als ginge es um etwas sehr viel Komplexeres als um das Herstellen von Pralinen.
    »Ich verspreche dir, dass ich schnell lerne.«
    Das stimmt. Ich lerne schnell. Schließlich hatte ich keine Wahl – wenn man eine Mutter wie meine hat, muss man entweder sehr schnell lernen, oder man geht unter. Eine Schule in der Londoner Innenstadt, geprägt von den verheerenden Auswirkungen des britischen Gesamtschulsystems, mit lauter Schlägern, Immigrantenkindern und anderen Verdammten dieser Erde. Das war mein Übungsplatz – und ich besaß eine fixe Auffassungsgabe.
    Meine Mutter hatte versucht, mich zu Hause zu unterrichten. Mit zehn konnte ich lesen, schreiben und den doppelten Lotus.Doch dann mischte sich das Jugendamt ein, verwies auf die fehlenden Qualifikationen meiner Mutter, und ich wurde auf eine Schule namens St. Michael’s-on-the-Green geschickt, ein dunkles Loch mit ungefähr zweitausend Seelen, das mich blitzschnell verschlang.
    Mein System steckte damals noch in den Kinderschuhen. Ich hatte keine Abwehrstrategien, ich trug grüne Samtlatzhosen mit aufgenähten Delfinen auf den Taschen, dazu ein türkisfarbenes Stirnband, um meine Chakren zu harmonisieren. Meine Mutter holte mich an der Schultür ab; am ersten Tag versammelten sich gleich ein paar Schüler und starrten uns nach. Am zweiten warf jemand einen Stein.
    So etwas ist heute schwer vorstellbar. Aber es kommt vor – wenn auch seltener. Zum Beispiel passiert es hier, an Annies Schule – wegen ein paar albernen Kopftüchern. Wildvögel töten exotische Vögel; die Wellensittiche, die Rosenpapageien und die gelben Kanarienvögel, die ihren Käfigen entfliehen, weil sie hoffen, ein Stückchen Himmel zu sehen zu bekommen, landen meistens wieder auf dem Boden, kahl gerupft von ihren konformistischeren Verwandten.
    Es war unvermeidlich. Während der ersten sechs Monate weinte ich mich jeden Abend in den Schlaf. Ich flehte meine Mutter an, mich in eine andere Schule zu schicken. Ich lief weg; ich wurde zurückgebracht; ich betete inbrünstig zu Jesus, Osiris und Quetzalcoatl, mich vor den Dämonen von St. Michael’s-on-the-Green zu schützen.
    Es half

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