Himmlische Wunder
euch«, sagte ich. »Ich bin super.« Und dann hob ich den Tennisball auf, der direkt vor meinen Füßen gelandet war, und warf ihn – peng! – Chantal an den Kopf.
»Du bist Es «, sagte ich.
Dann ging ich nach hinten zu meinem Platz, blieb aber unterwegs vor Jean-Loup stehen. Er tat nicht mehr so, als würde er lesen, sondern musterte mich jetzt ganz unverhohlen, und vor Staunen stand sein Mund halb offen.
»Willst du spielen?«, fragte ich.
Ich gab die Richtung vor.
Wir redeten ziemlich lange. Wie sich herausstellte, haben wir viele gemeinsame Interessen: alte Schwarz-Weiß-Filme, Fotografie, Jules Verne, Chagall, Jeanne Moreau, der Friedhof …
Ich fand ihn immer ein bisschen arrogant. Er spielt nie mit – vielleicht weil er ein Jahr älter ist; außerdem macht er mit seiner kleinen Kamera immer Fotos von den komischsten Dingen, und ich habe bisher immer nur mit ihm gesprochen, weil ich wusste, dass es Chantal und Suze ärgert.
Aber im Grunde ist er okay. Er grinste über meine Geschichte von Suze und der Liste, und als ich ihm erzählte, wo ich wohne, sagte er: »Du wohnst in einer Chocolaterie ? Wie toll ist das denn?«
Ich zuckte die Achseln. »Es ist okay.«
»Darfst du Pralinen essen?«
»Immer.«
Er verdrehte die Augen, was mich zum Lachen brachte. Dann –
»Wart mal kurz«, sagte er, holte seine kleine Kamera heraus – silbern und nicht viel größer als eine Schachtel Küchenstreichhölzer – und richtete sie auf mich. »Geschafft«, sagte er.
»He, hör auf«, sagte ich und drehte mich weg. Ich mag es nicht, wenn man mich fotografiert.
Aber Jean-Loup schaute grinsend auf das Minidisplay. »Sieh mal.« Er zeigte es mir.
Ich sehe nicht oft ein Foto von mir. Die wenigen Bilder, die ich habe, sind irgendwelche offiziellen Aufnahmen, die bei einem Passbildfotografen gemacht wurden, mit weißem Hintergrund und ohne Lächeln. Aber auf diesem Bild lachte ich, und Jean-Loup hatte mich aus einem verrückten Winkel fotografiert, als ich mich gerade zur Kamera drehte, die Haare verwischt, mein Gesicht strahlend –
Jean-Loup grinste wieder. »Komm schon, gib’s zu – das ist doch gar nicht so schlecht.«
Ich zuckte die Achseln. »Es ist okay. Fotografierst du schon lange?«
»Seit ich das erste Mal im Krankenhaus war. Ich habe drei Kameras. Am liebsten mag ich die alte mechanische Yashica, aber die nehme ich nur für Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die Digitalkamera ist auch nicht übel, schon weil ich sie überallhin mitnehmen kann.«
»Weshalb warst du im Krankenhaus?«
»Ich habe einen Herzfehler«, sagte er. »Deshalb musste ich eine Klasse zurück. Ich bin zwei Mal operiert worden und konnte vier Monate nicht in die Schule. Es war total lasch.« ( Lasch ist Jean-Loups Lieblingswort.)
»Ist es was Ernstes?«, erkundigte ich mich.
Jetzt zuckte Jean-Loup die Achseln. »Ich bin sogar gestorben. Auf dem Operationstisch. Neunundfünfzig Sekunden war ich klinisch tot.«
»Wahnsinn«, sagte ich. »Hast du eine Narbe?«
»Ich habe jede Menge Narben«, sagte Jean-Loup. »Im Grunde bin ich ein Freak.«
Und dann, bevor es mir so ganz bewusst wurde, unterhielten wir uns richtig; ich erzählte ihm von Maman und Thierry, und er erzählte mir, dass sich seine Eltern scheiden ließen, als er neun war, und dass sein Vater letztes Jahr wieder geheiratet hat und dass es gar keine Rolle spielt, wie nett die Frau ist, denn –
»Wenn sie nett sind, hasst man sie am meisten«, beendete ich seinen Satz mit einem Grinsen, und er lachte, und plötzlich waren wir Freunde, einfach so. Ohne großes Tamtam. Und irgendwie war es jetzt egal, dass Suze Chantal mir vorzog und dass ich immer Es sein musste, wenn wir das Tennisballspiel spielten.
Und als wir auf den Bus warteten, stand ich mit Jean-Loup ganz vorn in der Schlange. Chantal und Suze beobachteten uns mit bösen Blicken von ihrem Platz in der Mitte, sagten aber kein Wort.
6
M ONTAG , 19 . N OVEMBER
Anouk kam heute ungewöhnlich beschwingt von der Schule nach Hause. Sie zog ihre normalen Sachen an, küsste mich gut gelaunt, zum ersten Mal seit Wochen, und verkündete, sie treffe sich gleich noch mit jemandem aus ihrer Klasse.
Ich fragte nicht weiter nach. Anouk war in letzter Zeit so gereizt, dass ich ihre Stimmung nicht dämpfen wollte, aber ich hielt trotzdem die Augen offen. Seit dem Streit mit Suzanne Prudhomme hat sie nicht mehr über das Thema Freundschaft gesprochen. Ich weiß zwar, dass ich mich nicht einmischen soll, weil es sich ja
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