Himmlische Wunder
klar«, sagte Zozie.
Also holten wir das verwitterte Schild herunter (bei näherem Hinsehen konnte man die geisterhafte Inschrift entziffern, Frères Payen stand da, vielleicht der Name eines Cafés – oder ganz etwas anderes). Das Holz selbst war nicht beschädigt, befand Zozie, undwenn man es ein bisschen abschliff und frisch lackierte, konnte man es sicher wieder auf Vordermann bringen.
Dann trennten wir uns; Nico ging nach Hause in die Rue Caulaincourt und Zozie in ihr Miniapartment auf der anderen Seite der Butte , wo sie an dem Schild arbeiten wollte.
Ich konnte nur hoffen, dass es nichts Verrücktes wurde. Zozie liebt extravagante Farben, und ich sah schon ein Schild in Limettengrün vor mir, mit roten und grellvioletten Ornamenten, und ich musste dieses Schild dann wohl oder übel aufhängen, um sie nicht zu kränken.
Und so kam es, dass ich ihr heute Morgen ängstlich folgte – ich musste mir die Hände vor die Augen halten, weil sie es so wollte –, als sie mich aus dem Laden führte, um mir das Ergebnis anzusehen.
»Na?«, fragte sie. »Was sagst du?«
Zuerst brachte ich keinen Ton heraus. Da hing das Schild über der Tür, als wäre es schon immer da gewesen, rechteckig und gelb und der Name des Ladens in ganz normalen blauen Buchstaben.
»Es ist nicht zu kitschig, oder?« Zozie klang fast besorgt. »Ich weiß, du hast gesagt, ich soll etwas Einfaches schreiben, aber auf einmal ist mir das da eingefallen und – also – was sagst du?«
Es vergingen mehrere Sekunden. Ich konnte den Blick gar nicht von dem Schild abwenden, von den zauberhaften blauen Buchstaben, von dem Namen. Von meinem Namen. Natürlich war es Zufall. Was sollte es sonst sein? Ich lächelte sie so strahlend an, wie ich nur konnte. »Es ist wunderbar«, sagte ich.
Sie seufzte erleichtert. »Weißt du, ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
Lächelnd drehte sie sich weg und stolperte über die Schwelle, die, durch den Einfall des Lichts oder wegen der neuen Farben, jetzt fast durchsichtig schimmerte. Ich blieb allein draußen stehen und schaute mit schiefem Kopf zu dem Schild hinauf, auf dem in Zozies schöner Handschrift stand:
Le Rocher de Montmartre
Chocolat
1
D IENSTAG , 20 . N OVEMBER
Jetzt bin ich also offiziell mit Jean-Loup befreundet. Suzanne war heute nicht da, deshalb konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, aber Chantal reichte mir völlig – sie sah den ganzen Tag ganz schön hässlich aus und tat so, als würde sie mich keines Blickes würdigen, während alle ihre Freundinnen glotzten und flüsterten.
»Heißt das, du gehst jetzt mit ihm?«, fragte mich Sandrine in Chemie. Ich fand Sandrine immer nett – na ja, einigermaßen nett jedenfalls –, bevor sie sich mit Chantal und den anderen zusammentat. Ihre Augen waren rund wie Murmeln, und ich konnte an ihren Farben ablesen, dass sie vor Neugier fast platzte. »Hast du ihn schon geküsst?«
Wenn ich vorgehabt hätte, wirklich beliebt zu werden, hätte ich auf diese Frage wahrscheinlich Ja sagen müssen. Aber ich muss nicht beliebt sein. Ich bin lieber ein Freak als ein Klon. Und Jean-Loup, für den alle Mädchen schwärmen, hat fast so viele Freakseiten wie ich, mit seinen Filmen und seinen Büchern und seinen Fotoapparaten.
»Nein, wir sind nur Freunde«, sagte ich zu Sandrine.
Sie musterte mich skeptisch. »Na ja, mir kannst du viel erzählen.« Und sie stapfte beleidigt zu Chantal. Den ganzen Tag flüsterten und kicherten sie und beobachteten uns, während Jean-Loup und ich über alles Mögliche redeten und die anderen dabei fotografierten, wie sie uns anstarrten.
Ich glaube, man nennt dein Verhalten infantil, Sandrine. Wir sind nur Freunde, wie ich gesagt habe, und Chantal, Sandrine,Suze und die anderen können einfach verduften – wir sind super.
Heute nach der Schule gingen wir auf den Friedhof. Der Friedhof Montmartre ist einer meiner Lieblingsplätze in Paris, und Jean-Loup sagt, seiner auch. Wir mögen die kleinen Häuschen und Monumente, die spitzgiebeligen Kapellen und dünnen Obelisken, die Straßen, Plätze und Gassen und die Steinplatten für die Toten.
Dafür gibt es ein Wort: Nekropolis . Stadt der Toten. Und der Friedhof ist tatsächlich eine Stadt; diese Gräber könnten Häuser sein, finde ich, wie sie da nebeneinander stehen, die Türen ordentlich geschlossen, die Kieswege säuberlich gerecht, und in den Fenstern stehen Blumenkästen. Richtige kleine Wohnhäuser, eine Minivorstadt für die Toten. Bei dem Gedanken lief es mir
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