Himmlische Wunder
obwohl es mir irgendwie einen Stich versetzt – völlig irrational, aber das macht es nicht leichter. Seiten aus einem verlorenen Buch. Anouk mit dreizehn , flüstert die stumme Stimme. Anouk mit sechzehn, wie ein Drachen im Wind … Anouk mit zwanzig, mit dreißig und älter …
»Eine Praline, Jean-Loup? Ein Geschenk des Hauses.«
Jean-Loup. Nicht gerade ein Durchschnittsname. Auch kein ganz durchschnittlicher Junge. Er begegnet der Welt mit dunklen, prüfenden Augen. Seine Eltern sind geschieden, höre ich, er wohnt bei seiner Mutter und sieht seinen Vater nur dreimal im Jahr. Seine Lieblingspralinen sind Bittermandelsplitter, das ist ein ziemlich erwachsener Geschmack. Aber er ist überhaupt ein verblüffend erwachsener und selbstbewusster junger Mann. Seine Angewohnheit, alles durch den Sucher seiner Kamera zu betrachten, irritiert mich etwas. Es scheint, als wollte er sich von der Außenwelt distanzieren, um auf dem winzigen Display eine einfachere, schönere Wirklichkeit zu suchen.
»Was hast du gerade geknipst?«
Gehorsam zeigte er es mir. Auf den ersten Blick sah es abstrakt aus, ein Wirbel aus Farben und geometrischen Formen. Aber dann erkannte ich es: Zozies Schuhe, auf Augenhöhe fotografiert, absichtlich unscharf, in einem Kaleidoskop von in Folie verpackten Pralinen.
»Gefällt mir«, sagte ich. »Was ist das da in der Ecke?« Es sah aus, als würde etwas von außerhalb des Bildrahmens einen Schatten auf das Foto werfen.
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht stand jemand zu dicht daneben.« Er richtete seine Kamera auf Zozie, die hinter der Theke arbeitete, ein Büschel bunter Bänder in der Hand. »Das sieht klasse aus«, sagte er.
»Ich möchte das nicht.« Sie blickte nicht auf, aber ihr Tonfall war scharf.
Jean-Loup ließ die Kamera sinken. »Ich wollte nur –«
»Ich weiß.« Sie lächelte ihm jetzt zu, und er entspannte sich. »Ich lasse mich nicht gern fotografieren. Ich finde, auf Fotos sehe ich nie aus wie ich selbst.«
Das konnte ich gut verstehen. Aber warum wirkte sie plötzlich so unsicher? Ausgerechnet Zozie, die alles immer so frisch und unbefangen angeht, dass einem jede Aufgabe leicht erscheint. Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl und fragte mich, ob ich nicht ein bisschen zu viel von meiner Freundin erwartete, die doch auch ihre Probleme und Sorgen haben musste, wie alle Leute.
Aber wenn sie Probleme hat, versteckt sie diese gut; sie lernt schnell und mit einer Leichtigkeit, die uns beide überrascht. Sie kommt jeden Morgen um acht, also wenn Anouk gerade in die Schule geht, und in den paar Stunden, bevor wir den Laden aufmachen, schaut sie mir zu, und ich zeige ihr die verschiedenen Techniken beim Pralinenmachen.
Sie weiß, wie man Kuvertüre auf die richtige Temperatur bringt, wie man die Temperatur bestimmt und sie konstant hält, wie man die beste Art von Glanz erzielt, wie man Verzierungen auf eine geformte Figur spritzt, wie man mit dem Kartoffelschäler Schokoladenspäne macht.
Sie hat Talent, wie meine Mutter gesagt hätte. Aber ihre wahre Berufung liegt im Umgang mit den Kunden. Ich habe das gleich am Anfang gemerkt, dass sie unheimlich geschickt mit Leuten umgeht und sich sofort alle Namen merkt. Und dann dieses ansteckende Lächeln! Irgendwie schafft sie es, jedem das Gefühl zu vermitteln, dass er etwas Besonderes ist, egal, wie voll der Laden ist.
Ich habe mich schon ein paar Mal bei ihr bedankt, aber sie lacht immer nur, als wäre es für sie eine Art Spiel, hier zu arbeiten, etwas, was sie macht, weil es ihr Freude bereitet, nicht wegen des Geldes. Ich habe ihr ein ordentliches Gehalt angeboten, aber bis jetzt hat sie das Geld abgelehnt, obwohl das Le P’tit Pinson inzwischen schließen musste und sie wieder mal ohne Job dasteht.
Heute habe ich das Thema wieder angesprochen.
»Ich finde, du solltest ein richtiges Einkommen bekommen, Zozie«, sagte ich. »Du bist doch für mich viel mehr als eine gelegentliche Aushilfe.«
Sie zuckte die Achseln. »Zurzeit kannst du kein volles Gehalt auszahlen.«
»Aber jetzt mal im Ernst –«
»Ja, jetzt mal im Ernst.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Madame Charbonneau, du solltest endlich aufhören, dir den Kopf von anderen Leuten zu zerbrechen. Du solltest dich zur Abwechslung um dich selbst kümmern.«
Ich musste lachen. »Zozie, du bist ein Engel.«
»Ja, klar.« Sie grinste. »Können wir jetzt mit den Pralinen weitermachen?«
3
M ITTWOCH , 21 . N OVEMBER
Komisch, was so ein Zeichen bewirken
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