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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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kalt über den Rücken, und gleichzeitig musste ich lachen. Jean-Loup blickte von seiner Kamera auf und fragte mich, warum ich lache.
    »Man könnte fast hier wohnen«, sagte ich. »Ein Schlafsack, ein Kissen, eine Feuerstelle und etwas zu essen. Man könnte sich in einem dieser Grabsteine verstecken. Niemand würde es merken. Tür zu – und es ist wärmer als unter einer Brücke.«
    Er grinste. »Hast du schon mal unter einer Brücke geschlafen?«
    Ja, natürlich – sogar schon öfter –, aber das wollte ich ihm nicht sagen. »Nein, aber ich habe eine lebhafte Fantasie.«
    »Hättest du keine Angst?«
    »Wieso sollte ich?«
    »Die Geister.«
    Ich zuckte die Achseln. »Geister sind doch nur Geister.«
    Eine streunende Katze kam aus einer der schmalen Steinstraßen geschlichen. Jean-Loup knipste sie. Die Katze fauchte und verschwand blitzschnell wieder zwischen den Grabsteinen. Wahrscheinlich hat sie Pantoufle gesehen, dachte ich; Katzen und Hunde fürchten sich oft vor ihm, als wüssten sie, dass er nicht da sein sollte.
    »Irgendwann läuft mir bestimmt ein Geist über den Weg. Deshalb nehme ich immer meine Kamera mit hierher.«
    Ich schaute ihn an. Seine Augen leuchteten. Er glaubt an etwas,und die Sachen sind ihm wichtig, und genau das ist es, was ich so an ihm mag. Ich kann es nicht leiden, wenn die Leute durchs Leben gehen, ohne an etwas zu glauben und ohne etwas wichtig zu finden.
    »Du hast echt keine Angst vor Geistern«, sagte er.
    Na ja, wenn man wie ich schon so oft welche gesehen hat, dann muss man nicht mehr groß über sie nachdenken, aber das wollte ich Jean-Loup auch nicht sagen. Seine Mutter ist wahnsinnig katholisch. Sie glaubt an den Heiligen Geist. Und an Exorzismus. Und dass sich beim Abendmahl der Wein in Blut verwandelt – ich meine, wie eklig ist das denn? Und freitags gibt es immer Fisch. Oh, Mann. Manchmal glaube ich, dass ich selbst ein Geist bin. Ein Geist, der herumläuft, redet und atmet.
    »Die Toten tun gar nichts. Deshalb sind sie hier. Deshalb haben die kleinen Türen bei diesen Monumenten innen keine Türklinken.«
    »Und sterben?«, fragte er. »Hast du Angst vor dem Sterben?«
    Ich zuckte wieder die Achsel. »Ich glaube, ja. Aber haben davor nicht alle Leute Angst?«
    Er kickte einen Stein weg. »Nicht alle Leute wissen, wie es ist«, sagte er.
    Ich wurde neugierig. »Wie ist es denn?«
    »Das Sterben?« Er überlegte kurz. »Also, da ist dieser Tunnel. Und du siehst deine toten Freunde und Verwandten, die auf dich warten. Sie lächeln alle. Und am Ende des Tunnels ist ein ganz, ganz helles Licht, wirklich extrem hell und – heilig, glaube ich, und es redet mit dir und sagt, du musst ins Leben zurück, aber du sollst dich nicht ärgern, denn eines Tages wirst du wiederkommen, und dann darfst du in das Licht hineingehen, zu allen deinen Freunden und –« Er unterbrach sich. »Das glaubt jedenfalls meine Maman. Ich habe ihr erzählt, das hätte ich gesehen.«
    Ich schaute ihn an. »Und in Wirklichkeit – was hast du gesehen?«
    »Nichts«, sagte er. »Überhaupt gar nichts.«
    Wir schwiegen beide, und Jean-Loup schaute durch seinen Bildsucherauf die Friedhofsalleen mit all ihren Toten. Pling, machte die Kamera, als er den Auslöser drückte.
    »Wäre es nicht ein Witz, wenn das alles umsonst wäre?«, sagte er. (Pling.) »Was ist, wenn es überhaupt keinen Himmel gibt?« – Pling. »Wenn diese Menschen hier einfach nur vermodern?«
    Seine Stimme wurde immer lauter, und ein paar Vögel, die sich auf einem der Grabsteine niedergelassen hatten, flatterten mit heftigem Flügelschlag davon.
    »Sie sagen immer, sie wissen alles«, sagte er. »Aber eigentlich wissen sie gar nichts. Sie lügen. Sie lügen die ganze Zeit.«
    »Nicht die ganze Zeit«, sagte ich. »Maman lügt nicht.«
    Er schaute mich komisch an, als wäre er viel, viel älter als ich und besäße eine Weisheit, die auf Jahren voll Leid und Enttäuschung beruht.
    »Sie wird auch lügen«, sagte er. »Sie lügen alle. Immer.«

2

    D IENSTAG , 20 . N OVEMBER
    Anouk brachte heute ihren neuen Freund mit: Jean-Loup Rimbault. Ein hübscher Junge, etwas älter als sie, und er hat so eine altmodische Höflichkeit, die ihn anders sein lässt als die anderen Kinder. Er kam direkt nach der Schule – er wohnt auf der anderen Seite der Butte  –, und ging nicht gleich wieder weg, nein, er saß eine halbe Stunde im Laden und redete mit Anouk, bei Keksen und Schokolade.
    Es tut gut, Anouk mit einem Freund zu sehen,

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