Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
dass du dich nicht mit schönen Worten abfinden würdest und dass du die heiklen Punkte meiner „erotischen Lebenskunst“ aufspüren würdest.
„Wie soll das gehen“, fragst du, „mich ins Leben verlieben? Bei den Bergen und Flüssen bin ich dabei. Aber bei ‚Frauen und Männern‘ im Plural, da habe ich doch meine Zweifel. Glaubst du wirklich, dass das geht? Mich in alles und jede zu verlieben – mit Haut und Haar, wie du immer betonst –, ohne dabei meine Ehe oder Partnerschaft zu gefährden? Lieber Christoph, das finde ich reichlich naiv! Denn wenn ich mich in eine andere Frau verliebe, dann will ich Sex mit ihr haben, und wenn ich dem nachgehe, dann setze ich dabei natürlich meine Ehe aufs Spiel.“ – Danke für deine offenen Worte. Schauen wir mal, was mir dazu einfällt.
Ich glaube, am Anfang ist immer der Körper. Wenn du in die Liebe fällst, nimmst du deinen Körper mit. Und dein Körper sehnt sich nach Nähe, Vereinigung und Zärtlichkeit. Er sehnt sich nach Berührung und Berührtwerden, will die Verbundenheit spüren und ihr Ausdruck verleihen. So ist es am Anfang des erotischen Weges, und so bleibt es bis zuletzt. Doch die Formen, in denen dein Körper deine Liebe zumAusdruck bringt, ändern sich im Laufe des Lebens. Sie ändern sich in dem Maße, in dem sich der Horizont deiner Liebe weitet. Das war das Thema der „Ausfahrt auf das Meer des Schönen“: Als reife Menschen hängen wir unser Herz nicht mehr an einen einzigen Menschen. Wenn wir gereift sind, verlieben wir uns in vieles und viele. Auch dann noch suchen wir Nähe oder Berührung, doch die körperlichen Impulse werden stiller und tiefer. Wir werden Männer und Frauen lieben, aber wir müssen nicht mit allen und jedem Sex haben. Kannst du mir bis dahin folgen?
Und doch kann der Tag kommen, an dem das Bedürfnis danach in dir mächtig wird; der Tag, an dem du weißt, dass es nicht mehr wahr und stimmig wäre, der sexuellen Begegnung auszuweichen. Selbst dann nicht, wenn du in einer festen Beziehung lebst und weißt, dass du deine Partnerin verletzen wirst, wenn du diesem Bedürfnis nachgehst – ja, dass du die Beziehung damit aufs Spiel setzen würdest. Und da fragst du: „Was dann?“
Dann hast du ein Problem. Ohne jede Wertung. Du hast einfach ein Problem. Wenn du mit einem Menschen Sex hast, dann übernimmst du für ihn und dich eine hohe Verantwortung. Es kommt alles darauf an, dass du diesem Problem gewachsen bist und der Verantwortung – für dich, deine Partnerin und deine Geliebte – wirklich gerecht wirst. Diese Verantwortung ist hoch. Weil Sexualität ein sensibler Bereich voller Intimität und Verletzlichkeit ist, der geschützt und gehegt sein will. Denn du wirst auf alle Zeit mit diesem Menschen auf der fundamentalsten Ebene verbunden sein. Dessen musst du dir bewusst sein. Das ist der Maßstab, an dem sich bemisst, ob du deiner Verantwortung gerecht wirst oder nicht. Deshalb spüre in dich wie mit einem Echolot: Wie tief ist eure Verbindung? Wie weit trägt sie? Ein Leben lang? Oder nur einen Augenblick? Wenn ihr wirklich tief verbunden seid – dann viel Spaß; wenn nicht – wird’s schwierig und früher oder später habt ihr Stress. Unweigerlich.
Deswegen halte ich es für sinnvoll, das Sexualleben für den Menschen zu reservieren, mit dem du dich zutiefst verbunden weißt. Und sollte es daneben noch einen zweiten oder gar dritten geben, dann istdas zwar weder schlimm noch verwerflich, aber eben doch kompliziert. Weil es ein hohes Maß an Reife, Ehrlichkeit, Offenheit, Wahrhaftigkeit und Liebe voraussetzt, der Verantwortung, die du damit übernimmst, wirklich gerecht zu werden. Denn du liebst ja jeden dieser Menschen. Du weißt dich jedem dieser Menschen innigst verbunden. Und deshalb willst du keinen von ihnen verletzen; und das in einem Bereich, in dem jeder von ihnen sich verletzlich gemacht hat – wo ihr euch wehrlos begegnet seid. Wirst du diese Gradwanderung schaffen? Wirst du es aushalten, denen, die du liebst, die Wahrheit zu sagen? Werden sie es aushalten, die Wahrheit zu hören? Und umgekehrt: Wirst du es aushalten, denen, die du liebst, einen Teil der Wahrheit deines Lebens zu verheimlichen, um sie zu schützen? Wirst du die Kraft haben, das Gleichgewicht zu halten?
Es geht hier nicht um Moral, nicht um Richtig oder Falsch. Das liegt mir ganz fern. Ich spreche von der Dramatik des Lebens, die darin liegt, dass es zu Situationen kommen kann, in denen es weder Richtig noch Falsch gibt; in denen
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