Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben

glaub’ nicht dran. Klar kann „reiner“ Sex eine gute Erfahrung sein. Klar kann es toll sein, ganz im Körper-Sein aufzugehen. So wie es auch toll sein kann, sich in einer mystischen Erfahrung mit dem göttlichen Einen eins zu wissen. Aber hier wie dort: Am tollsten ist es bei vollem Bewusstsein, mit ganzem Herzen, mit Leib und Seele bei der Sache zu sein – auch im Bett. Und das genau ist es, wozu die erotische Lebenskunst einlädt: verliebt ins Leben zu sein, verliebt in die Menschen, denen wir begegnen; und ganz sicher auch verliebt in den- oder diejenige, mit dem oder der wir sexuelle Intimität leben und feiern wollen; aber nicht verliebt im Sinne des Klammerns, des Haben-Müssens, des Begehrens.
    Sex ohne Liebe ist ein großes Unglück. Und es ist so weit verbreitet, wie es schwer behebbar ist. Die einzige Kraft, die sie zu heilen vermag, ist Eros, die Öffnung für die dritte Dimension, das Hineingleiten in die Liebe. Je tiefer wir uns fallen lassen, desto mehr wird es uns gelingen, unsere Sexualität in unser Leben zu integrieren; und zwar so, dass wir dabei immer freier werden. Wir werden dann unsere Sexualität leben, ohne unsvon ihr beherrschen zu lassen. Wir werden sie bei vollem Bewusstsein und von ganzem Herzen leben – gemeinsam mit Menschen, mit denen wir uns in der Tiefe verbunden wissen und die sich dafür entschieden haben, dieser Verbundenheit körperlich Ausdruck zu verleihen.
    Gleichwohl ist wahrscheinlich, dass mit zunehmendem Alter und zunehmender erotischer Reife das Bedürfnis nach Sex zurücktritt; dass andere körperliche Ausdrucksformen an die Stelle der körperlich-sexuellen Vereinigung treten. Wunderbar, nichts dagegen. Dagegen sollten wir nur etwas haben, wenn Menschen meinen, sie dürften keinen Sex mehr haben, weil sie geistig, spirituell oder sonst wie reifen wollen. Nicht zu dürfen, das hieße, etwas unterdrücken, ablehnen, verneinen. Und zwar nicht irgendetwas, sondern die fundamentale erotische Kraft des Lebens in ihrer körperlichen Erscheinungsform. Eine Lebenskunst oder Spiritualität, die uns so etwas nahelegt, richtet sich gegen das Leben, dem sie eigentlich dienen sollte. Das ist reichlich lieblos. Eine Lebenskunst der Liebe, eine erotische Lebenskunst, wählt einen anderen Weg: nicht asketische Unterdrückung, sondern Integration und Transformation.
    Dann zielt die treibende Sehnsucht nach Vereinigung nicht mehr allein auf körperliche Nähe, sondern vielmehr auf seelische Verbundenheit und spirituelles Eins-Sein; die treibende Sehnsucht nach Schönheit zielt nicht mehr allein auf schöne Körper, sondern auch auf schöne Seelen und die Schönheit in allem; die treibende Sehnsucht nach Unsterblichkeit zielt nicht mehr allein auf Zeugung und Schwangerschaft, sondern auch auf das Eintauchen in das große Netz des Lebens. Sexualität wird dadurch frei und bewusst. Wir können sie feiern, statt uns von ihr treiben zu lassen. Ja, wir können ihr eine Qualität verleihen, die uns immer tiefer in die Dimension der Seele eintauchen und Sex zu einer achtsamen und liebevollen Praxis reifen lässt. Unsere Sexualität wird damit immer bewusster, sie wird zu einem Fest des Lebens, das wir mit denjenigen Menschen teilen, mit denen wir uns in der tiefsten Tiefe unserer Seelen verbunden wissen.

Sehnsucht macht
das Ego mürbe
Denn so, wie die Liebe dich krönt,
kreuzigt sie dich.
So wie sie dich wachsen lässt,
beschneidet sie dich.
So wie sie emporsteigt zu deinen Höhen
und die zartesten Zweige liebkost, die in
der Sonne zittern,
steigt sie hinab zu deinen Wurzeln
und erschüttert sie
in ihrer Erdgebundenheit
.
Khalil Gibran
     
    Ich danke dir für deine glühende Verteidigung des Ich. Mir gefällt, dass du darauf bestehst, die von unserer westlichen Kultur begründete Wertschätzung der Individualität nicht leichthin aufzugeben. Mir gefällt, dass du die Rationalität des Verstandes, das Wollen der praktischen Vernunft als hohe menschliche Qualitäten preist, die nicht einfach dem Herzen, dem Eros, der Seele geopfert werden sollten. Auch deine Zweifel an allen spirituellen Wegen, die uns die „Überwindung des Ich“ als Königsweg zum Glück nahelegen, kann ich teilen. Deswegen ist es mir auch so wichtig zu unterstreichen, dass der Weg des Eros gerade nicht darin besteht, das Ich zu eliminieren. Im Gegenteil: Die große Herausforderung auf dem Weg des Eros ist die Integration des Ich. Das Ich muss nicht überwunden werden – überwunden werden muss allenfalls eine