Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
entrüsten. Vielleicht befremdet oder bekümmert dich etwas, aber du empörst dich nicht mehr moralisch. Das ist ein Quantensprung der seelischen Entwicklung. Denn in dem Maße, in dem du deine Mitmenschen urteilslos betrachten kannst, in dem Maße kannst du auch zu dir selbst Ja sagen. Das führt zu echter Selbstliebe und hat nichts mit Narzissmus zu tun.
Das Schöne daran ist: Wenn die altgedienten Entrüstungsmechanismen nicht mehr so greifen wie früher, dann wird das Leben gelassener; und zwar ohne dabei langweiliger oder farbloser zu werden. Das ist kein Paradoxon. Das Leben wird gelassener, weil du mehr in der Gegenwart bist, präsenter und wacher; irgendwie auch näher an den Dingenund Menschen. Denn urteilsfrei heißt nicht interesselos; wir dürfen den Zustand erotischer Urteilsfreiheit nicht mit der ästhetischen Wahrnehmung verwechseln, bei der sich das Ich den Rest der Welt von Hals hält, um ihn in Ruhe genießen zu können. Wenn wir in der Liebe sind und die Welt mit dem Herzen anschauen, halten wir sie uns mitnichten vom Leib. Im Gegenteil, wir sind mitten drin, aber wir fällen keine Werturteile. Wir sagen nicht: Das ist gut, das ist böse. Vielleicht sagen wir: Das ist gut und das ist schlecht – etwa dann, wenn es um die Qualität von etwas geht, zum Beispiel des Essens im Restaurant. Klar darfst du sagen: „Das Essen ist schlecht“, wenn es schlecht ist. Klar darfst du sagen: „Der Kaffee ist Plörre“, wenn er Plörre ist. Aber – und das macht den Unterschied – du regst dich darüber nicht mehr auf. „Der Kaffee ist Plörre, aber das Leben ist trotzdem schön. Scheiß drauf. Nächstes Mal gehen wir in eine bessere Bar.“ Das ist es, was ich meine: Die Entrüstung geht flöten. Was schlecht ist, regt dich nicht mehr auf. Maximal sagst du dir: „Was für eine Tragödie! So einen schlechten Kaffee anzubieten, ohne es zu merken!“ Jedenfalls könnte ich mir eine liebende Seele vorstellen, die so etwas sagt, weil sie verbunden bleibt und darunter leidet, dass nicht alles so gut und schön ist, wie ihr Herz es gern hätte. Und trotzdem ist ein größeres Maß an Gelassenheit da. Es ist die Entspanntheit der liebenden Seele.
Ich glaube, diese Entspanntheit ist auch ganz wichtig für das, was ich an unserer Ehe inzwischen richtig gut finde, auch wenn es mir nun wirklich nicht in die Wiege gelegt war: die Streitkultur. Ich erlebe es als ganz wichtig, dass wir auch – oder gerade – als Liebende miteinander streiten; ohne einander runterzuputzen oder fertigzumachen, sondern voller Respekt füreinander, aber eben auch für die Sache, über die wir womöglich verschiedener Meinung sind. Klar, es gibt unterschiedliche Perspektiven, und es ist nie auszuschließen, dass meine die verkehrte oder unzureichende ist. Da ist es wunderbar, dich als Kritikerin und Streitende an meiner Seite zu haben. Denn deine Kritik kann ich gut annehmen, weil ich doch weiß, dass sie von Liebe grundiert und getragen ist. So kann ich auch meine Fragen und Zweifel anbringen, weil ich doch weiß, dass selbst ein handfester Streit nicht so leicht dazu führen wird, unsere Eheauszuhebeln. Denn irgendwann kommt immer der Punkt, wo wir unsere Meinungen – die wir so gerne haben – in die Liebe fallen lassen. Dann begegnen sich unsere einander so verbundenen Seelen und können die Meinungsverschiedenheit einfach zulassen, annehmen und aushalten. Mit dieser Gelassenheit kämpft und streitet die liebende Seele, ohne sich mit ihrem Kampf und Streit zu identifizieren.
Aber Gelassenheit bedeutet nicht
anything goes
. Es heißt nicht, dass mir alles egal ist. Ganz im Gegenteil. Wer in der Liebe ist, spielt nicht mehr das alte Ich-Spiel von Gut und Böse. Du bist jenseits von Gut und Böse, wenn du in der Liebe bist. Aber du bist nicht jenseits von Tun und Lassen. Wenn du dich in einen Menschen verliebst, wird dieser Mensch für dich maßgeblich. Weitest du dies nun auf eine „erotische Lebenskunst“ aus und verliebst dich ins ganze Leben, wird das ganze Leben für dich maßgeblich. Beispiel: Wenn du leidenschaftlich in die Natur verliebt bist, dann wirst du sie nicht zerstören. Es ist dir vielmehr ein Anliegen, dass alles Leben, das dich umgibt, sich entfalten und zur Blüte bringen darf. Willst du also nach Maßgabe deines liebenden Herzens
verantwortlich
auf den Anspruch des Lebens
antworten
, wirst du alles daran setzen, ein naturgemäßes und lebendiges Leben zu führen – ein Leben, das den Gesetzmäßigkeiten, den
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