Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
Die Griechen tickten völlig anders als die Römer. Sie verstanden sich selbst keineswegs als autonome Subjekte, die eigenmächtig über ihr Tun und Lassen entscheiden und dementsprechend moralisch zur Rechenschaft gezogen sowie nach Gut und Böse be- und verurteilt werden konnten. Sie erlebten sich nicht in dem Sinne als Individuen, wie wir das heute tun, weil sie sich sehr viel stärker als Spielfiguren im großen Spiel des Lebens verstanden. Sie sahen sich als Spielball der Götter. Das erklärt auch, weshalb sie die Erfahrung des Erotischen so präzise erfassten: Weil sie wussten, dass die Erfahrung des Eros und das Sich-Verlieben nicht kraft des eigenen Willens herbeigeführt werden kann.
Dies alles rufe ich mir und euch ins Bewusstsein, weil es mir so wichtig scheint zu verstehen, wieso und wodurch der Eros in der christlichen Welt des Abendlands in Vergessenheit geriet. – Wieso die christliche Theologie, die sich doch eigentlich dem Konzept Liebe verpflichtet wissen müsste, ausgerechnet die vitale, dynamische, kraftvolle Komponente der erotischen Liebe aus ihrem zentralen Konzept ausblendete und dem Christenmenschen damit sein größtes und unerschöpfliches spirituelles Energiereservoir verschüttete. Schlicht dadurch nämlich, dass man sich dafür entschied, die christlichen Kernsätze
Gott ist die Liebe, Du sollst Gott den Herrn lieben und den Nächsten wie dich selbst
, Am
Größten aber ist die Liebe
ausschließlich moralisch zu deuten. Weil so aus dem christlichenKonzept der Liebe und der christlichen Spiritualität sämtliche erotischen Komponenten gelöscht wurden; die sexuellen Aspekte sowieso, aber auch die erotischen.
So geriet der zarte kleine Eros-Knabe unter die mächtigen Räder der aufstrebenden Kirche – und wurde entstellt und verjagt. Nietzsche hat Recht, wenn er beklagt, es sei „dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite – großen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ.“ Und er lag auch nicht falsch, als er hinzufügte: „Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei jedem Menschen notwendig und regelmäßig machen zu wollen!“
Die Antwort liegt für mich auf der Hand. Ja, es ist schrecklich. Und das gleiche Prädikat müsste wohl auf die christliche Theologie Anwendung finden, wenn es nicht immer auch eine subversive Unterströmung oder Gegenströmung in ihr gegeben hätte, die sich gegen die Moralisierung bzw. Ent-Erotisierung der Liebe wehrte und dafür eintrat, dem Eros als Wirklichkeit Gottes im menschlichen Gewand die Ehre zu erweisen. Einer dieser „Contras“ war Origines, der bedeutende Kirchenvater aus Ägypten. Er meinte, Gott sei Eros. Und in eine ähnliche Kerbe haute später Gregor von Nyssa, einer der Kappadokischen Väter, der sagte, die Liebe, die von Jesus als die Mitte der christlichen Ethik proklamiert wird, sei ein
erotikon pathos
, eine erotische Leidenschaft. Berufen konnten sich diese Verfechter des Erotischen darauf, dass die Heilige Schrift in ihrem Kanon immerhin einen durch und durch erotischen Text zu bieten hatte: das althebräische Hohelied der Liebe – ein rauschendes Poem auf die Freuden der sinnlichen Liebe. Eine Kostprobe:
„Siehe, meine Freundin, du bist schön!
Siehe, schön bist du! Deine Augen sind Taubenaugen hinter deinem Schleier
.
Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen
,
die herabsteigen vom Gebirge Gilead
.
Deine beiden Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen
,
die unter den Lilien weiden. Du bist wunderbar schön, meine Freundin
,
und kein Makel ist an dir
.
Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, du hast
mir das Herz genommen mit einem einzigen Blick deiner Augen, mit
einer einzigen Kette an deinem Hals
. (Hohelied 4,1-5-7-9)
Man kann sich ausrechnen, dass es für diejenigen, die mit Ignatius von Antiochien den Eros „kreuzigen“ wollten, ein Angang war, dass so etwas in der Bibel stand. Doch die besten unter den Theologen zu fast allen Zeiten nahmen solche Zeilen als Ansporn, die von der Moral verurteilte erotische Komponente der Liebe in die christliche Spiritualität hinüberzuretten. Sie deuteten die erotischen Gesänge im Hohelied als Metaphern für die leidenschaftliche, glühende, erotische Liebe des Menschen zu Gott. So fand Eros sein
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