Hin u Weg - Verliebe Dich Ins Leben
in die Welt kam, der Mensch könne – qua Ich – für seine Liebe und seine erotische Leidenschaft verantwortlich gemacht werden.
Nur war man sich im 5. Jahrhundert v. Chr. noch der Fragwürdigkeit dieser Entwicklung bewusst. Also lässt Platon seinen Sokrates vehementen Einspruch gegen Pausanias erheben, indem er mit aller Entschiedenheit darauf besteht, dass es nur einen einzigen Eros gibt und dass jede Zweiteilung in einen guten, himmlischen und einen bösen, irdischen Eros im vollsten Sinne des Wortes Sünde ist.
Als aber die christliche Theologie der Spätantike erneut dem Eros mit der Moral zu Leibe rückte, fand sich kein vergleichbar kraftvoller Apologet mehr. Eine andere Macht hatte inzwischen die Welt erobert: Rom. Und Rom atmete den Geist der Moral. Die Römer hatten ein stark ausgeprägtes Pflichtempfinden und klare Vorstellungen darüber, was in einer
civitas romana
moralisch legitim und was verwerflich war. Eben diesen römischen Geist – der sich immerhin eine Welt erobert hatte – erbte später nach und nach die römische Kirche. Und mit dem imperialen Gestus übernahm sie auch, nolens volens, das Denken in den Kategorien von Pflicht, Gehorsam, Lohn, Strafe – kurz, das ganze Repertoire des moralischen Kodex. Damit fiel ihr zugleich ein probates Mittel der Machtausübung in die Hände, denn was ist besser geeignet, Menschen zu lenken als ein solides System von Gesetz, Pflicht und Belohnung? Wer sich in die Position bringt, einen moralischen Regelkanon aufstellen zu können, gewinnt Macht über die Menschen, weil er nun festlegt, was gut und wasböse ist; er hat die Autorität, Werte zu setzen. Die Erfolgsgeschichte der römischen Kirche lässt sich zumindest teilweise dadurch erklären, dass es ihr relativ früh gelungen ist, genau diese Autorität für sich in Anspruch zu nehmen und durchzusetzen.
Auch wenn die christliche Moral längst erodiert und an ihre Stelle eine säkulare Moral getreten ist, hat diese Entwicklung entscheidende Weichen für die europäische Geistesgeschichte gestellt. Denn die Genealogie der Moral unter christlichem Vorzeichen führte – on the long run – dazu, dass die Menschen von einer gigantischen Angst ergriffen wurden: der Angst, den moralischen Geboten ihrer Religion nicht Genüge zu leisten. Mit dieser Angst verfestigte sich ihre Fokussierung auf das Ich. Denn dem Ich wurde nun die ganze Verantwortung aufgeladen, vor Gott und dessen Geboten bestehen zu können. Die kirchlichen Strategien zur teilweisen Beschwichtigung der Angst durch Sonntagspflicht, Beichte und Ablasswesen konnten zu Beginn der Neuzeit nicht mehr verhindern, dass dieses gigantische Angstpotenzial sich zuletzt in die Reformation ergoss und dort mit einer gewaltigen Eruption die etablierten Strukturen der Kirche sprengte. Luthers Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ war längst zu einem kollektiven Thema geworden, das den Befreiungsschlag erzwang.
Nur: Der Trend zur Verkrustung des Ich wurde dadurch nicht gestoppt, sondern beschleunigt. Nun sah sich der einzelne Mensch Gott direkt gegenüber. Durch Glauben und Gnade konnte er zwar das Seelenheil erwerben, aber es lag noch mehr an seinem Ich als einst in katholischen Zeiten, als die Kirche noch ein bisschen für Entlastung sorgte. So setzte sich, inspiriert vom Protestantismus, vollends die Idee durch, dass der Mensch ein autonomes Subjekt ist, das nicht nur für sein Tun und Lassen zur Rechenschaft gezogen werden, sondern darüber hinaus aus eigenen Stücken für sein Seelenheil eintreten kann und muss. Vor allem die Calvinisten zogen diese Konsequenz, und so ist es kein Wunder, dass sie vermittelt über die Vordenker des Liberalismus wie Adam Smith oder Jeremy Bentham zu den Wegbereitern der modernen Welt einer freienMarktwirtschaft wurden, die essentiell von dem Gedanken lebt, wir seien partikulare Individuen, deren Lebenssinn darin besteht, trotz des allgegenwärtigen „Krieges aller gegen aller“ (Thomas Hobbes) je für sich Wohlstand, Glück und Zufriedenheit zu erwirtschaften. Damit war die Stunde des Ego angebrochen.
Dass diese Entwicklung nicht spurlos an dem christlichen Zentralkonzept „Liebe“ vorbeigehen konnte, liegt, wie mir scheint, auf der Hand. Denn für die erotische Dimension des Eros war längst schon kein Sinn mehr vorhanden, als die Moral in der Neuzeit die Überhand gewann; kommt Eros doch aus einer vormoralischen Welt – einer Welt des Seelenbewusstseins und nicht des Ich-Bewusstseins: Griechenland.
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