Hingabe
Wort weg. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das für Chris genauso überraschend ist wie für mich.
Am Fuß der Treppe steht ein Kellner. Ich mache eine Trinkbewegung mit einem imaginären Glas, und er weist in Richtung der Bar, die eine Treppe tiefer ist. Ich finde ein geräumiges Kellergeschoss vor, in dem sich sechs Tische befinden und so viele schöne Menschen, die herumstehen und -sitzen, dass die doppelte Anzahl Tische notwendig wäre. Alle tragen teure Kleider und maßgeschneiderte Anzüge. Plötzlich kommt mir meine Jeans deplatziert vor. Nein, nicht plötzlich. Mein Spießrutenlauf begann beim Türsteher, und es geht einfach so weiter.
Ich gehe zu der u-förmigen Theke und winke den Barkeeper herbei, der mir bei meiner Flucht helfen soll. »Wo ist die Toilette?«, frage ich. Ich werde eine ziemliche Meisterin in dieser Vierwortfrage.
Der Barkeeper streckt die Hand aus, und ich gehe an ihm vorbei und den Flur zu seiner Rechten entlang. Die Kunst des Deutens und ihre Fähigkeit, die Sprachbarriere zu durchbrechen, steht bei mir mittlerweile hoch im Kurs.
Im Badezimmer finde ich zwei große Waschbecken zu meiner Linken vor, und meine Nasenflügel beben, als ich den Duft von Zimtkerzen rieche, die in der Ecke des marmornen Waschtischs brennen. Drei elegante Holztüren befinden sich weiter hinten im Raum. Und nachdem ich einen Moment gelauscht habe, bin ich überzeugt, dass die Kabinen leer sind. Glücklicherweise.
Ich stütze mich aufs Waschbecken und blicke meinem Spiegelbild ins Auge. Doch ich sehe mich kaum, während ich im Geist alles durchspiele, was Neuville uns gesagt hat. Ich versuche herauszufinden, was mir an ihm und an dem Gespräch am meisten zu schaffen gemacht hat. Drei Wochen, hat er gesagt, sei Ella bei ihm gewesen. Drei Wochen. Hmmm. Irgendwas daran erscheint mir faul. Ella hat San Francisco Ende August verlassen. Inzwischen ist Oktober. Also könnte Neuvilles Behauptung, er suche seit einer Woche nach ihr, vielleicht stimmen, aber das würde bedeuten, dass sich Ella und ihr Verlobter fast unmittelbar nach ihrer Ankunft in Paris getrennt haben. Es würde auch bedeuten, dass Ella, bis zur letzten Minute gewartet hat, bevor sie einen neuen Pass beantragte – wenn sie vorhatte, zum 1. Oktober in die Schule zurückzukehren. Aber hätte Blake es nicht herausgefunden, wenn der Pass neu ausgestellt worden wäre, als er Nachforschungen über ihre Reise angestellt hat?
Mein Gedankenfluss versandet, als die Badezimmertür geöffnet wird, und meine Haut prickelt warnend, noch bevor ich Isabel im Spiegel sehe. Ich versteife mich sofort, drehe mich zu ihr um und mache mich bereit. Irgendetwas wird jetzt kommen. Die Luft knistert geradezu.
Sie schließt die Tür und verschränkt die Arme vor der Brust, wie sie es getan hat, als ich die Treppe hinaufgegangen bin; sie hat wieder so einen selbstgefälligen Ausdruck auf dem Gesicht. Das scheint so etwas wie ihr Permanent-Make-up zu sein. »Sie denken tatsächlich, er gehört Ihnen, nicht wahr?«, schnauft sie, als amüsiere es sie.
»So viel dazu, gleich zur Sache kommen«, bemerke ich. »Zumindest werden wir nicht das verlogene Nettigkeitenspiel spielen. Er gehört mir.«
Sie tritt einen Schritt auf mich zu, dann noch einen. Ich balle die Fäuste, bewege mich aber nicht. Sie hat keine Peitsche, mit der sie mir einen Hieb versetzen könnte, der mich einschüchtert. »Bis er mehr braucht«, verspricht sie. »Die Art von ›Mehr‹, die nur ich ihm geben kann.«
Zornentbrannt drücke ich die Nägel in das weiche Fleisch meiner Handflächen. »Wenn Sie meinen, bis er Schmerz braucht – das wird er nicht.«
Sie kommt noch näher, viel zu nah. Wir stehen jetzt Zeh an Zeh voreinander, und ihr blumiges Parfum überlagert den Duft der Kerzen. Es dreht mir schier den Magen um.
»Er wird Schmerz brauchen«, verheißt sie leise. »Er hat ihn schon immer gebraucht, und er wird ihn auch immer brauchen.«
»Sie wollen, dass er das denkt, weil es heißt, dass er Sie braucht. Nur dass er Sie nie gebraucht hat. Es war der Gegenstand, den Sie in der Hand gehalten haben. Die Peitsche, die jede andere halten kann, wenn sie nur ein Miststück ist, das fest genug zuschlagen kann.«
Ihre Augen leuchten auf vor Zorn, und sie blafft mich an. Eine Sekunde beobachte ich ihren fuchsteufelswilden Gesichtsausdruck, der ihr schönes Gesicht hässlich macht, in der nächsten explodiert sie und stößt mich mit dem Rücken hart gegen die schmale Wand. Bei dem Aufprall keuche ich
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