Hinreißend untot
»Seit Jahren habe ich keins mehr gesehen. Natürlich wurden sie auch nicht gebraucht.«
»Gebraucht?« Macs Gesichtsausdruck erinnerte mich an Pritkin im Modus maximalen Misstrauens.
»Die Pest, Magier«, sagte Marlowe ungeduldig. »Man glaubte, dass der Heilige Sebastian vor Krankheiten schützen konnte. Solche Amulette waren zu meiner Zeit auf dem Kontinent noch sehr beliebt, obgleich die meisten aus dem vierzehnten Jahrhundert stammten, als die Pest wütete.« Ich beugte mich vor und sah mir das Medaillon genauer an. »Es ist also eine Art Talisman?«
Marlowe lächelte. »Etwas in der Art. Die Menschen wollten glauben, dass sie etwas taten, um sich und ihre Familien zu schützen.«
»Kommt mir ironisch vor«, sagte ich. Mac nickte, aber Marlowe sah mich verwundert an. »Dieses Objekt wurde vor kurzer Zeit benutzt, um jemanden zu töten.«
Marlowes Brauen gingen nach oben. Es war die erste Reaktion, die mir echt erschien. »Die Pythia wurde ermordet?«
Mac stieß einen von Pritkins schlimmeren Flüchen aus. »Und woher wissen Sie das, wenn Sie nicht selbst der Täter sind?«, fragte er hitzig. Marlowe zuckte mit den Schultern. »Von wem sonst reden wir?« Er drehte das Medaillon hin und her und runzelte erneut die Stirn. »Jemand hat es aufgebrochen.«
»Das haben wir gemacht.« Mac nahm ihm das Amulett aus der Hand. »Es steckte Arsen drin!« Er sprach die Worte so aus, als sollten sie Marlowe festnageln, doch der Vampir blieb unbeeindruckt.
»Natürlich.« Er bemerkte meinen Gesichtsausdruck und fügte erklärend hinzu: »Zerriebene Kröte, Arsen … Es wurden viele Substanzen in diesen Medaillons untergebracht, bevor man sie verlötete. Sie sollten dabei helfen, Krankheiten zu verhüten, und sie erhöhten den Wert des Amuletts – und natürlich auch seinen Preis.«
»Sie meinen, es
sollte
Gift darin gewesen sein?« Ich sah Mac an. »Sind Sie sicher, dass Agnes ermordet wurde?«
»Cassie …«, begann er warnend. In Marlowes Beisein wollte er ganz offensichtlich nicht darüber sprechen, aber meiner Meinung nach konnte es nicht schaden. Wenn Marlowe hinter dem Tod der Pythia steckte, wusste er bereits davon; wenn nicht, konnte er vielleicht den einen oder anderen Hinweis liefern.
»Ein solches Medaillon wurde bei ihrer Leiche gefunden«, teilte ich Marlowe mit. »Könnte es irgendwie benutzt worden sein, um sie zu töten?« Er überlegte. »Alles, was in Kontakt mit der Haut gerät, kann gefährlich sein. Königin Elisabeth wäre fast Gift zum Opfer gefallen, das jemand in den Knauf ihres Sattels rieb. Und ich habe einmal einen Katholiken ermordet, indem ich seinen Rosenkranz in eine Arsenlösung tauchte«, fügte er nonchalant hinzu. Bei dem Burschen kriegte ich das Gruseln, aber wenigstens schien er die richtige Adresse für mich zu sein. »Würde es bei einer solchen Methode lange dauern, jemanden umzubringen?«
»Etwa eine Stunde.«
»Wie war’s mit sechs Monaten?«
Marlowe schüttelte den Kopf. »Selbst wenn jemand Agnes’ Halskette in eine schwache Lösung tauchte und sie die Angewohnheit hatte, das Medaillon zu befingern … Es hätte nicht geklappt. Im Lauf der Zeit führt Arsen zu Rötungen und Schwellungen der Haut – das wäre ihr bestimmt aufgefallen. Deshalb erfolgt stufenweises Vergiften meistens über die Nahrung. Arsen ist geschmack- und geruchlos, und in kleinen Dosen verabreicht ähneln die Symptome denen einer Lebensmittelvergiftung.«
»Ihr Essen wurde speziell zubereitet und sorgfältig vorgekostet«, sagte Mac. »Und Lady Phemonoe war extrem … vorsichtig in Hinsicht auf Gift. Man kann in diesem Zusammenhang vielleicht nicht direkt von Paranoia sprechen, aber …«
»Ich habe etwas anderes gehört«, warf Marlowe munter ein. Die Fachsimpelei schien ihm zu gefallen. »Angeblich ist sie im Alter sehr abergläubisch geworden und hat alle Arten von fragwürdigen Hilfsmitteln gekauft, unter anderem ein Messer, das grün wird, wenn man es über schädliches Essen hält; eine Vase aus venezianischem Glas, die angeblich explodiert, wenn man sie mit giftiger Flüssigkeit füllt; ein Kelchglas mit einem darin eingelassenen Bezoarstein …«
»Vielleicht hat sie etwas
gesehen.«
Agnes war ebenfalls eine Seherin gewesen, noch dazu eine sehr begabte. Ich schauderte. Wie schrecklich musste es sein, den eigenen Tod zu sehen und nichts dagegen unternehmen zu können? »Vielleicht.« Marlowe lächelte mich wieder an, und es gefiel mir gar nicht. »Aber wenn das stimmt, scheint es ihr
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