Hinter blinden Fenstern
nach Silvester, als ich begriffen hab, daß mein Leben so nicht weitergehen kann, waren lauter Sterne am Himmel. Ich hab hochgeschaut und bin erschrocken, weil die Sterne so nah waren, oder so riesig, oder so hell. So hell waren die, und die hingen da oben in ihrer magischen Ordnung, und ich hab gedacht, ich bin auch ein Stern und seit tausend Jahren erloschen, und alle bilden sich nur ein, mich zu sehen. Die können mich doch gar nicht mehr sehen, weil es mich nicht mehr gibt. Seit tausend und abertausend Jahren und vielleicht noch nie. Vielleicht, hab ich gedacht, bin ich noch gar nicht auf der Welt, das kommt erst noch, weißt du, ich bin erst im Entstehen, alles, was ich habe, ist ein Schatten, und den sehen die Leute und denken: Hey Linda, gut schaust aus, und ich schminke mich und zieh mir coole Klamotten an. Hey Linda, rufen die Leute, und Niko schenkt mir eine Zigarette und Ellen bringt mir im Jennerwein ein frisches Bier, und sie alle kapieren nicht, daß da ein Schatten sitzt. Merken die nicht. Ich trink mit ihnen und zieh mit ihnen um die Häuser und zu Hause setz ich mich zu meinen Eltern und erzähl was aus der Schule, und alle denken: Linda, die Strebsame, Linda, die Kommunikative. Aber ich bin nicht kommunikativ, ich sag auch keinen Ton, eine Stimme habe ich ja noch nicht, die kommt ja erst noch, in tausend Jahren oder abertausend. Bloß der Schatten ist schon da. Linda, die Richtige, die gibt’s noch nicht. Die kann niemand sehen. Kein Mann, kein Mensch, kein Hund.«
»Ich sehe dich, Linda«, sagte Fischer.
»Das glaub ich nicht.«
Aber ihre Stimme war nicht überzeugt.
»Ich sehe dich, ich sehe dich, wie du wirklich bist.«
»Wie denn?«
»Ich kann dein Herz sehen.«
»Das kann niemand.«
»Dein Herz ist eine winkende Hand.«
»Mein Herz ist keine Hand, und die winkt auch nicht.«
»Dein Herz ist eine winkende Hand«, sagte Fischer.
»Nein.«
Schweigen für Sekunden.
»Nein«, rief Linda. »Du lügst. Du lügst.«
Sie keuchte mit offenem Mund, schniefte und kratzte sich mit beiden Händen am Kopf, blinzelte heftig, zuckte zornig mit den Beinen. »Du hast alles kaputtgemacht«, schrie sie.
Dann war es still.
Zehn Minuten lang sprach niemand ein Wort.
Allmählich atmete Linda ruhiger, die Zuckungen ihres Körpers ließen nach. Fischer legte die Hand auf die Bettdecke und spürte Lindas Beine darunter.
»Ich bin schuld, daß Arthur ins Gefängnis muß«, sagte sie und nickte.
»Diesen Satz möchte ich von Linda, der Wahrhaftigen, nie mehr hören«, sagte Fischer. »Hast du mich verstanden?«
Erst im Treppenhaus, eingehüllt in ihren nach Leder und Zigarettenrauch riechenden, fast bodenlangen Mantel und mit der schwarzen Wollmütze, die sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte, murmelte sie, als Fischer sie ein drittes Mal fragte, etwas, das klang wie ein Ja.
Für Esther Barbarov und Liz Sinkel begann mit der Wendung der Ereignisse eine Finsternis weit über diese Nacht hinaus. In der ersten Stunde, nachdem die beiden Frauen von Micha Schell erfahren hatten, daß Linda Gabriel in eine Wohnung in der Riesenfeldstraße verschleppt worden war, wußten sie nicht, wohin mit ihrem Schrecken und ihrer Schuld. Unabhängig voneinander liefen sie von einem Stockwerk ins andere, standen wortlos in Valeries Büro, baten um ein persönliches Gespräch mit Silvester Weningstedt, das sie dann auf später verschoben, begegneten sich im Treppenhaus, unfähig, einen Satz zu wechseln, und konnten schließlich nur durch die strenge Ermahnung ihres Vorgesetzten zur Ruhe gebracht werden. Weningstedt schloß die Tür seines Büros, auch die des Raumes, in den der lange Besprechungstisch hinüberragte, und bot den Kommissarinnen Cognac an. Sie lehnten ab. Sie starrten die grüne Kaffeetasse auf dem Schreibtisch an, als wäre sie eine Monstranz. Mehrmals mußte der Erste Kriminalhauptkommissar seine Stimme erheben, bis er eine Antwort erhielt.
»Ich dulde in meiner Abteilung keine Selbstgeißelungen« , sagte er.
Er setzte sich, stutzte und stellte die Tasse hinter einen Aktenordner, so daß die Frauen sie nicht mehr sehen konnten.
»Ihr wart auf Zeugensuche, ihr habt mit dem Mann gesprochen, und ihr hattet nicht den kleinsten Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen dem Mord an dem Stadtstreicher und der Entführung der Schülerin. Und wenn es stimmt, daß das Mädchen die meiste Zeit freiwillig dort verbracht hat, dann braucht ihr euch erst recht keine Vorwürfe zu machen. Drücke ich mich
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