Hinter blinden Fenstern
»Mir hast du erzählt, du würdst mich heiraten, wenn ich achtzehn bin. Traust du dich nicht mehr?« Mit einem Ruck drehte sie den Kopf zu Fischer. »Er ist so feige. So feige. Er hat gedacht, er kann mich kleinkriegen, und als er gemerkt hat, daß er sich die Falsche ausgesucht hat, ist er eingeknickt, und er hat es nicht mal gecheckt.«
»Das denkst du«, rief Fallnik.
»Das denk ich nicht, das weiß ich. Er hat sich nicht mal getraut, mit mir zu schlafen. Dabei hat er vorher von nichts anderem geträumt. Ich bin nackt vor ihm gestanden, und er hat’s nicht fertiggebracht. So klein, so klein war sein …« Wie vorher Fallnik zeigte sie mit Daumen und Zeigefinger die Größe.
»… Vergiß es. Ich hab zu ihm gesagt, ob er echt meint, jemand würde ihm glauben, wenn er behauptet, er hätte mich nicht vergewaltigt. Und wenn ich aussage, er hätte mich dreimal am Tag vergewaltigt. Wem glaubt die Polizei dann? Mir oder ihm? Dem Opfer oder dem Täter? Dem Mann oder dem Mädchen, das er gekidnappt hat? Das hat er dann eingesehen.«
»Stimmt.« Als könne er Linda nicht länger ins Gesicht sehen, redete er zum Boden hin. »Ich hätt sie umbringen und verbuddeln sollen, und niemand hätt was gemerkt. Und danach wär ich in Soltersbuschs Geheimloge eingetreten. Das wär wahrscheinlich das Vernünftigste gewesen. Was hab ich statt dessen getan? Hab ihr einen neuen Mantel gekauft, hundert Prozent Polyester, gefüttert, mit schicken Schulterklappen und Gürtel, wasserabweisend, in Schwarz, von Orwell, sehr gute Marke, hab natürlich Rabatt gekriegt. Paßt wie angegossen. Sie hat ihn angezogen, wenn wir ausgingen, nachts. Und? Ist sie weggelaufen? Hab ich dich angekettet?«
»Was passiert jetzt?« fragte Linda und sah niemanden dabei an.
»Wir bringen Sie beide ins Polizeipräsidium«, sagte Fischer. »Dort werden Sie von einem Arzt untersucht, Sie müssen einem Psychologen Fragen beantworten und anschließend unseren Kollegen aus der Sonderkommission. Und Ihre Eltern werden da sein. Und dann werden Sie mit unseren Kollegen den Umgang mit der Presse klären müssen. Und Herr Fallnik kommt in Untersuchungshaft.«
»Ich geh hier nicht weg«, sagte Linda wieder.
Sie sprang auf, lief zum Bett, schlug die Decke zurück und ließ sich hineinfallen. Sie zog die Decke über den Kopf und rollte sich zusammen, bis nichts mehr von ihr zu sehen war.
»Sie kriegt, was sie will«, sagte Fallnik.
»Sie auch.« Micha Schell packte den Mann an der Schulter und dirigierte ihn zur Wohnungstür.
Fischer zögerte.
»Ich schick die Kollegen rauf«, rief Schell, und zu Fallnik: »Ziehen Sie sich Schuhe an.«
»Ohne Socken?«
»Beeilen Sie sich.«
Nach einem Blick auf das Bett schloß Fischer die Augen, bleckte die Zähne und warf den Kopf hin und her.
Im Flur schlüpfte Fallnik umständlich in schwarze Slipper.
Im selben Moment, als Fischer die Augen öffnete und zur Tür gehen wollte, um seinem Kollegen etwas zu sagen, sprang Linda mit einem Satz aus dem Bett, rannte in den Flur, schob Schell zur Seite und baute sich vor Fallnik auf.
Er starrte sie an.
Mit sanfter Geste, mit den Kuppen ihrer langen, blassen Finger, strich sie Fallnik übers Gesicht, auf der einen Seite, auf der anderen, mit der rechten, mit der linken Hand. Behutsam neigte sie den Kopf vor und legte ihre Wange an seine und blieb so, sekundenlang, mit herabhängenden Armen, genau wie er. Ihr Atem war eine Vertrautheit. Und bevor sie den Kopf zurückzog, flüsterte Linda: »Danke, Arthur.«
Fallniks Blick kreiste durch den Flur, wie auf der Suche nach einem offenen Fenster.
26 Eine winkende Hand
J etzt hat er seine Bibel vergessen«, sagte Linda. »Die hilft ihm sowieso nichts mehr. Dem Arthur.«
»Ich werde meine Kollegen nicht länger vertrösten können«, sagte Polonius Fischer.
»Trösten Sie lieber mich.«
»Wie fühlen Sie sich, Linda? Soll ich einen Arzt kommen lassen?«
»Ich fühle mich überhaupt nicht. Bevor Sie da waren, habe ich mich noch gefühlt, jetzt nicht mehr.« Sie hockte auf dem Bett, ans Gestell gelehnt, die weiße Decke über den angewinkelten Beinen, das Kinn auf den Knien.
»Unser Gespräch ist inoffiziell, Sie werden alles, was Sie mir sagen, im Präsidium noch einmal erzählen müssen, und noch viel mehr. Ich bin für Ihre Vernehmung nicht zuständig.«
»Das macht doch nichts. Ich geh hier nicht weg, wieso verstehen Sie das nicht?«
»Weil ich es nicht kann«, sagte Fischer.
»Was?«
»Ich kann nicht verstehen, warum Sie
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