Hinter deiner Tür - Aktionspreis (German Edition)
Schritt vor den nächsten, um den
Nebelschwaden zu entkommen. Grübelte weiter. Der dichte
Wald empfing mich. Ich tauchte ein in das Grün der Natur und
lief weiter. Laub raschelte. Knisterte bei jeder meiner
Bewegungen. In den Baumkronen rauschte es, als wollten sie mit
mir sprechen. Aber ich war allein.
Ich blickte nach oben und sah, wie die ersten
Sonnenstrahlen sich einen Weg durch die dichten Kronen
bahnten. Der Wald leuchtete in einem ganz besonderen Licht.
Mein Weg schlängelte sich vor mir her. Endlos. Allmählich
wurde er steiler. Ich ließ den Nebel hinter mir. Der Boden wurde
weicher. Ich durchquerte einen Nadelwald und atmete tief ein.
Das Laufen fiel mir zusehends leichter. Die Farne am Wegesrand
waren von Tau benetzt. Spinnweben glitzerten in der Sonne. Auf
dem Boden wimmelte es von emsigen Ameisen. Es sah aus, als
würden alle in unterschiedliche Richtungen laufen. Dabei war ihr
Chaos organisiert. Im Gegensatz zu meinem.
Vor mir tauchte eine Lichtung mit einem kleinen See auf,
der meine Gedanken ablenkte. Die Sonne schien durch die vom
Herbst verfärbten Blätter hindurch. Rot. Gelb. Orange. Tausend
Töne dazwischen spiegelten sich im klaren Wasser dieses Sees.
Früher war ich oft mit meinem Vater wandern gegangen. Da
Mutter wegen ihrer Höhenangst die Berge nicht gemocht hatte
und lieber ans Meer gereist war, waren wir unter uns gewesen.
Beim Wandern hatten wir meistens geschwiegen. Die Natur
genossen. Am Abend spielten wir Canasta und schliefen danach
in einem Bett.
Bilder meiner Jugend durchkreuzten meine Gedanken. Ich
schob sie zur Seite und spürte eine Art friedliche Stille.
Der Weg führte mich nun einen schmalen Steig hinauf.
Meine Beine waren schwer von der Anstrengung, doch mein
Kopf war etwas leichter geworden. Noch ein paar Schritte und
ich würde den Gipfel erreichen.
Auf dem Hochgrat angekommen, fühlte ich mich
unbeschwert. Um mich herum war es ruhig. Welch gute Idee
über Allerheiligen für ein paar Tage ins Allgäu zu fahren und zu
entspannen! Bisher hatte ich nur wenige Menschen getroffen. Ich
übernachtete in einer Hütte, die früher meinen Großeltern gehört
hatte. Die neuen Eigentümer waren sofort einverstanden
gewesen. Im November wäre nicht mehr so viel los, meinten sie.
Der Blick war frei. Ich konnte ihn über das Allgäu bis
nach Österreich schweifen lassen. Von hier oben wirkte die
Landschaft so freundlich. Berge und Täler reihten sich malerisch
aneinander. Der Himmel war blau. Ich streckte mich und sog die
frische Luft tief ein. Mein Atem kam langsam zur Ruhe.
Ich liebte die Berge. Warum wollten eigentlich alle
wegfliegen, wenn man in eineinhalb Stunden mit der Bahn hier
sein konnte?
Nach drei Tagen in den Hügeln stand ich nun zum
Abschluss auf dem höchsten Berg der Region und begab mich
ins Gipfel-Restaurant.
Mit einem neuen Schuss Energie sahen meine Probleme
nicht mehr ganz so unlösbar aus. Bevor ich mich auf den
Rückweg machte, schmiedete ich Pläne für die Welt dort unten.
Dabei fiel mir die letzte Begegnung mit meiner Mutter wieder
ein. Vor diesem Wochenendausflug hatte ich sie kurz in ihrem
neuen Haus in Konstanz besucht. Im Stadtteil Paradies war ich
vor einem großen, schönen Anwesen mit gepflegtem Vorgarten
stehengeblieben.
Ein junger Mann hatte mir die schwere Eingangstür
geöffnet. Sein Gesicht war mir gleich bekannt vorgekommen ...
„Hallo. Kann ich Ihnen helfen? Moment mal ... Du bist
doch ... die Lena. Bist du’s wirklich ...?“
„Hallo. Ja, ich bin Lena. Ich … wollte zu … meiner
Mutter.“
„Louise, kommst du mal, hier ist ... deine Tochter?“,
fragte er sichtlich überrascht. Ich begrüßte Mutter mit einer
kurzen Umarmung und drehte meinen Kopf schnell weg, damit
ihr aufgehauchter Kuss ins Leere ging.
„Lena, das ist Sebastian, ich glaube ihr kennt euch aus
der Schule“, versuchte sie von diesem peinlichen Treffen
abzulenken. Er war viel zu jung für sie. Sebastian! Der picklige
Streber aus meiner Klasse. Von dem ich immer gedacht hatte, er
sei schwul. Der gehörte damals zu der Clique, die mich
gehänselt hatte ...
Ich fragte mich beim Löffeln meiner Tomatensuppe, was
eigentlich schlimmer war, Mutter mit diesem jungen Mann
zusammen zu sehen oder Sebastian nach so langer Zeit wieder
gegenüberzustehen. Dann hatte er auch noch den guten Freund
gemimt ...
„Du hast dich gar nicht verändert, Lena.“
Du dich dafür umso mehr, dachte ich, sprach
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