Hinter deiner Tür - Aktionspreis (German Edition)
schwer wird das nicht sein.
Außerdem haben wir früher doch auch in Konstanz gewohnt.
Hier ist die Telefonnummer“, sagte ich etwas zu laut für
Weihnachten. Ich gab ihm den Zettel und hoffte, dass er sich bei
Thilos Mutter melden würde. Ob er nicht nach Konstanz fuhr,
um sich nicht an früher zu erinnern?
„Ich werde diese Frau … Peters mal anrufen.
Versprochen.“ Er las den Namen von dem kleinen Zettel ab.
Schweigend aßen wir weiter. Der Vorwurf des Verrats hing in
der Luft, bis mein Vater plötzlich mit glasigen Augen sagte:
„Übrigens, ich habe auch noch etwas Besonderes für dich.“ Er
machte einen beinahe aufgeregten Eindruck, ging zu seinem
Bäumchen und holte die drei Kartons, die mir schon aufgefallen
waren. „Frohe Weihnachten, meine kleine Prinzessin. Ich glaube
jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dies anzuschauen.“
Er betonte die Worte deutlich. Ein Schauder lief mir über
den Rücken. Ich nahm die Kartons, entfernte Staub und Fäden,
die Spinnen im Laufe der Jahre hinterlassen hatten und erkannte
die geraden Buchstaben meiner Mutter.
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30
TOBIAS stand in großen Druckbuchstaben auf jedem
Karton. Dann war es eine Lüge, dass sie damals alles
weggegeben hatte! Angeblich für einen guten Zweck. „Wir
können nicht mehr länger so tun, als hätte es ihn nie gegeben“,
flüsterte mein Vater mit Tränen in den Augen..
„Ja.“
Eine Gänsehaut kroch ganz langsam über meinen Rücken.
Fein säuberlich gestapelt lagen winzige Strampler, Schlafanzüge,
Hosen, T-Shirts und Pullis in den Pappschachteln. Ich wühlte in
den Kleidungsstücken meines toten Bruders. Sie waren alle sehr
klein; die meisten hell- und dunkelblau. Ich konnte es kaum
glauben. Versuchte, den Kloß im Hals herunterzuschlucken.
Mein Herz schlug zu schnell. Ich zitterte. Mit jedem Karton
wurden die Teile ein wenig größer. Die Schleuse öffnete sich
wieder. Wir umarmten uns und weinten gemeinsam um diesen
süßen kleinen Jungen mit seinen goldblonden Locken. Tobias
war drei Jahre jünger als ich gewesen. Meine Erinnerungen an
ihn hingen im Nebel fest. Doch sein Lächeln sah ich plötzlich
vor mir, als ich in den Kartons kramte. Mit nur zwei Jahren war
er gestorben. „Ich dachte, jetzt wo du ein Kind erwartest, kannst
du die Sachen brauchen“, sagte mein Vater, während er sich
bemühte zu lächeln. „Vielleicht wird es ja ein Junge. Ich
vermisse Tobias sehr. Jetzt, wo deine Mutter weg ist, kann ich
endlich trauern. Du weißt, dass sie das nicht wollte. Immer,
wenn du als Teenager über Tobias‘ Tod sprechen wolltest, ist sie
dir ausgewichen. Sie hat so getan, als hätte der Kleine nie gelebt.
Sie hat es einfach nicht ertragen können.“ Er schwieg eine
Weile. „Deshalb durfte auch niemand zum Grab gehen.“
Traurige Augen blickten mitten in mein Herz. Er sah älter
aus, als er war. Auch er hatte sehr gelitten. Unter meiner Mutter.
Unter der fehlenden Trauer. „Erinnerst du dich, dass wir ihr dies
versprechen mussten? Sie hat ihn einfach aus ihrem Gedächtnis
gelöscht. Damit ist jetzt Schluss. Ich hatte in den letzten
Monaten viel Zeit zum Nachdenken.“
Vor meinem inneren Auge tauchten Bilder auf. Seit
Tobias‘ Tod hatte sich mein Leben verändert. Wie konnte ich
das bloß alles vergessen haben?
„Mama will, dass ich abtreibe. Du hättest ihr nichts von
dem Baby erzählen dürfen. War dir das nicht klar?“ Der Vorwurf
traf ihn hart.
„Mein Gott, Lena, deine Mutter ... sie meint es nicht so.
Sie hat es nicht leicht, aber dass sie
so
weit geht ...“
„Sie stand bei mir vor der Tür und hat mir die Nummer
eines Arztes für die Abtreibung in die Hand gedrückt. Kannst du
dir vorstellen, wie
ich
mich gefühlt habe?“ Ich wurde immer
lauter und sah ihn böse an. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
Wie musste ich mich beherrschen, damit sie nicht in seinem
Gesicht landeten. Mein Vater nahm meine Hände in seine.
„Lena, das ist furchtbar. Es tut mir wirklich sehr leid.
Hätte ich das geahnt ... das wollte ich nicht.“ Er hielt kurz inne
und sagte schließlich mit fester Stimme: „Vorher war Louise ein
anderer Mensch“, und lauter werdend: „Das musst du mir
glauben. Sie hat mir nie verziehen, dass Tobias gestorben ist.“
Damals hatte mein Vater viel getrunken. Jetzt konnte ich
es deutlich vor mir sehen. Mein Magen meldete sich und meine
Hände fühlten sich nass an. Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Papa, ich träume oft von
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