Hinter deiner Tür - Aktionspreis (German Edition)
spendenden Blick.
„Und dann? An was kannst du dich noch erinnern, Lena?
Komm, versuch’ s!“, ermunterte er mich. Mit Tränen in den
Augen sahen mich die anderen an. Mitleid sprach aus ihren
Blicken. Schnell schloss ich die Augen wieder. Einmal geöffnet,
war die Schleuse nicht mehr zu schließen. Die Tränen quollen
heraus. Ich straffte die Schultern.
„Die Beerdigung war schlimm. Das kleine Grab. Ja, daran
erinnere ich mich. Meine Oma und mein Papa haben geweint.
Danach wurde es noch schlimmer. Für mich. Sie hat ihn aus
ihrem Gedächtnis gestrichen. Meine Mutter. Wir sind
umgezogen. Haben so gelebt, als hätte es ihn nie gegeben.
Tobias. Wir durften sein Grab nie besuchen …“
„Mein Gott!“, entfuhr es Anja.
„An einen Gott, der es gut meint mit mir, habe ich von da
an nicht mehr glauben können. Ich schäme mich so dafür, dass
ich schon seit Jahren nicht mehr an meinen Bruder gedacht habe.
Wie konnte ich vergessen, dass es ihn gab?“, sagte ich immer
leiser werdend. Sebastian war blass geworden.
Melissa schaute mich an, legte mir ihre Hand auf die
Schulter.
„Du musst mit deiner Mutter darüber reden. Ganz
dringend.“
Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch.
„Das hatte ich heute vor - gleich nach dem Treffen hier.
Seit dieser Traum immer wiederkommt, erinnere ich mich
deutlicher an meinen Bruder.“
„Nein!“, schrie Sebastian plötzlich. „Das wird Louise
nicht verkraften! Das kannst du ihr nicht antun!“
Alle Blicke fielen auf ihn. Ich nahm dankbar das
Taschentuch, das Anja mir reichte und trocknete meine Tränen.
Die Neugierde siegte. Würde ich jetzt endlich etwas über
Sebastian erfahren?
„Louise?“
Thilo runzelte die Stirn. „Ich dachte, du stehst auf
Männer? Wer ist dann Louise?“
„Meine Mutter“, sagte ich.
Schweigen. „Komm, Sebastian, ist doch jetzt auch egal.
Wusstest du nicht, dass meine Mutter einen Sohn hatte? Das ist
mal wieder typisch für sie. Es gibt ja auch keine Bilder von ihm.
In eurem Haus habe ich auch keine gesehen.“
„Was hast du mit Lenas Mutter am Hut?“, mischte sich
jetzt Hans in die Diskussion ein. Sebastian sah aus, als wäre er
am liebsten im Erdboden verschwunden. Er hatte es plötzlich
sehr eilig.
„Ich habe heute Abend noch eine Verabredung. Muss jetzt
los.“ Er sprang auf. Mein Bauch verriet mir, wo er hin wollte.
Als er gegangen war, erklärte mir Thilo ganz sachlich, wie
wichtig es sei, dass ich mit meiner Mutter oder mit anderen
Menschen spreche, um die Wahrheit herauszufinden.
„Deine Erinnerung kann dir einen Streich spielen“, sagte
er und betonte jedes Wort einzeln.
„Das Komische ist, dass mein Vater behauptet, sie hätte
ihm
das damals nie verziehen. Das hat mich stutzig gemacht.“
„Siehst du, Lena, Thilo hat Recht. Die Wahrheit ist das
einzige, was dir helfen kann. Du kannst mir glauben, dass du
bestimmt keine Schuld hast. Wie alt warst du damals? Fünf oder
sechs Jahre alt? Als Mutter weiß ich, dass ein Kind nicht
verantwortlich gemacht werden kann. Und ich meine jetzt nicht
rechtlich!“
Melissa wurde mit jedem Wort lauter. Warum hätte
Mutter mich dann in diesem Glauben lassen sollen? Meine
Hände ballten sich zu Fäusten, in meinem Bauch grummelte es.
Alter Groll stieg auf. Eine wahnsinnige Wutlawine überrollte
mich. Mutter! Ich fühlte den Zorn auf diese Frau im Bauch,
musste irgendetwas tun, um ihn herauszulassen.
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„Hast du´ s wegmachen lassen?“
Mutter empfing mich braungebrannt und scheinbar gut
erholt. Ihre Frage traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.
„Dir auch noch frohe Weihnachten, Mama und danke für
das Geld.“
Ich schlug ihr die Blumen, die ich auf dem Weg an einer
Tankstelle gekauft hatte, in Gedanken um die Ohren und ging an
ihr vorbei in die Wohnung. Mutter roch wie immer nach teurem
Parfum und war für meinen Geschmack zu stark geschminkt und
gestylt. Sie trug Designerkleidung - einen langen eleganten
Wollrock und dazu einen Blazer.
„Warst du nun bei Dr. Klein oder nicht? Du weißt doch,
dass es legal ist. Und in deiner Situation ... oder bist du etwa
schon zu weit?“
„Du kannst dir deinen Dr. Sowieso sonstwohin stecken.
Ich will mein Kind!“, erwiderte ich selbstbewusster, als ich mich
fühlte. Mit zittrigen Knien setzte ich mich unaufgefordert auf die
schöne Ledercouch im Wohnzimmer. Und ich werde eine
bessere Mutter als du es je warst.
„Lena, weißt du, was das bedeutet? Kinder machen nur
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