Hinter deiner Tür - Aktionspreis (German Edition)
neuen
Frau verbracht. In Gedanken wäre sie aber bei ihrer Mutter
gewesen.
„Mein Vater hat mich noch nie verstanden. Der hat nicht
lange getrauert, einfach die Nächstbeste geheiratet. Wann muss
ich endlich nicht mehr weinen?“
„Dann, wenn es genug ist“, erklärt Melissa. „Du musst da
durch. Trauern ist unheimlich wichtig. Wer in einem solchen
Fall nicht traurig sein kann oder darf, kann starkes Bauchweh
oder andere körperliche Probleme bekommen.“
„Ich vermute, dass deine Angst damit irgendwie
zusammenhängt“, fügte Thilo nachdenklich hinzu.
„Was kann denn passieren, wenn man nicht trauert?“
„Das kann sehr unterschiedlich sein, Lena. Es kommt
darauf an, wie die Trauer verarbeitet wird. Manche Menschen
werden gefühllos oder auch aggressiv.“
Hatte ich Mutter jemals traurig erlebt? Wenn sich dieser
graue Schleier doch endlich lichten würde! Ich beschwor die
Geister der Vergangenheit herauf, wollte endlich Klarheit.
„Möchtest du uns auch etwas erzählen?“, forderte Thilo mich mit
einer verschwörerischen Miene auf.
„Es fällt mir sehr schwer darüber zu reden. Ich kann kaum
glauben, dass es noch eine Bedeutung hat. Es ist doch alles so
lange her.“ Worte stolperten aus mir heraus, bahnten sich ihren
Weg, durchbrachen die Mauern des Schweigens. Ich konnte sie
zwar bremsen, aber nicht mehr aufhalten: „Ich bin ... ich bin
schuld an dem ... Tod meines ... meines kleinen Bruders.“
Die Mauer war durchbrochen. Es gab kein Zurück.
Schuld. Das Wort schwebte wie ein Geist im Raum. Verlegen
blickte ich auf den Boden. Die anderen schwiegen. Ihre
Gedanken konnte ich spüren. Sie umkreisten mich wie ein Rudel
Wölfe. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprang ich auf und
rannte ins Bad.
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33
Thilo wollte aufstehen, wurde aber von Melissa sanft in
den Sitz zurückgedrückt. Seine Gedanken rasten. Vielleicht war
es zu früh! Sie brauchte noch Zeit. Er hatte sie zu sehr gedrängt.
Hoffentlich verschloss sie sich jetzt nicht vollständig! Er hatte
mit der Zeit erfahren, dass das Sprechen über schwierige
Situationen nur half, wenn derjenige es auch wollte. Letztendlich
war die Gruppe eine Hilfe zur Selbsthilfe. Die Unterstützung
anzunehmen und sich zu ändern, war die große Herausforderung,
vor der jeder alleine stand. Wie vor einem hohen Berg. Thilo
wusste bereits, dass sich der Weg lohnen konnte.
„Ich schau mal nach ihr“, brach Melissa das Schweigen,
als Lena schon zehn Minuten weggeblieben war.
„Das ist eine gute Idee“, meinte Hans. „Sie sollte uns alles
erzählen.“
***
Zurück. Du musst zurückgehen. Alles erzählen. Einatmen.
Ausatmen. Einatmen. Ich holte tief Luft. Saß auf dem
Toilettendeckel. Trocknete meine Tränen. Atmete tief ins
Zwerchfell. Beruhige dich, Lena!
„Alles in Ordnung mit dir?“, hörte ich Melissas zaghafte
Stimme durch die Badezimmertür.
„Ja, ich komme gleich.“
Süße, das ist lächerlich. Es ist deine Wohnung. Du kannst
sie alle hinauswerfen und das Treffen beenden!
Sie waren so hilfsbereit. Außerdem fühlte ich, wie die
Anspannung der letzten Tag von mir abfiel. Ich konnte wieder
freier atmen. Also öffnete ich die Tür. Melissa umarmte mich
und führte mich zurück zu meinem Platz.
„Sorry, es ist echt hart für mich“, begann ich meine
Erzählung, gegen die ich mich so lange innerlich gesträubt hatte.
Sehr lange. Viel zu lange.
„Ja, das ist es für jeden von uns.“ Thilo lehnte sich
zurück. Zitterte er?“
„Es ist uns allen so gegangen. Am Anfang ist es schwer,
Lena. Es wird leichter, wenn du erst einmal angefangen hast.
Trau dich!“, sagte Melissa. Ihre lieben Worte machten es mir
leichter.
„Was ist denn so Schlimmes passiert?“, fragte Sebastian
vorsichtig. Ich schloss die Augen und erzählte, so gut ich konnte.
„Es ist alles verschwommen. Ich sehe meinen kleinen
Bruder auf dem Boden liegen. Tobias bewegt sich nicht. Dann ist
da ein Mann im Kittel. Ein Arzt. Ich kann erkennen, dass er den
Kopf schüttelt. Sie legen eine Decke über die kleine … Leiche.
Tobias war erst zwei Jahre alt. Das Gesicht meiner Mutter … Ich
kann es erkennen. Sie rastet aus, schreit mich an ‚Warum hast du
nicht auf deinen kleinen Bruder aufgepasst?‘ So war das.“ Meine
Schultern sacken nach vorn. „Mehr weiß ich nicht mehr ... Nein,
doch. Mein Papa nimmt mich in den Arm. Bringt mich weg.“ Ich
öffnete die Augen und bemerkte Thilos dunklen Trost
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