Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
sie.
»Doch!«, jaule ich.
Tränen steigen mir in die Augen, mein Hals brennt. Früher hat sich »zu Hause« anders angefühlt. Meine Mutter geht zurück zur Tür. »In fünf Minuten bist du gut gelaunt wieder unten und trinkst noch ein Glas Wein mit uns. Du auch, Caroline«, sagt sie und verschwindet. Wir beide gucken uns an.
»Reg dich nicht auf …«, versucht Caro mich zu besänftigen. Sie breitet ihre Arme aus und lädt mich zu einer Umarmung ein. Mit einem leidenden Seufzer sinke ich in ihre Arme. Ich habe sie so lieb, ohne sie wäre ich manches Mal verloren gewesen.
Nachts liege ich auf dem hellgrauen Ecksofa im Wohnzimmer, so betrunken, dass ich mein linkes Bein als Anker auf den Boden aufstellen muss. Caro und die anderen sind längst im Bett. Draußen prasselt der Regen auf das Autodach meiner Mutter.
Natürlich habe ich gemacht, was sie von mir verlangt hat. Ich würde alles für meine Mutter tun. Zusammen mit Caro bin ich fünf Minuten nach unserer Unterhaltung ins Wohnzimmer marschiert und habe meinem Namen alle Ehre gemacht. Nach einer Runde Small Talk war der Abend dann auch schon wieder vorbei.
Nun zappe ich mich durchs TV-Programm und schicke mit Magnus, der auch nicht schlafen kann, weil er mich vermisst und ihm seine Wohnung so verlassen vorkommt, SMS hin und her. Es ist ein komisches Gefühl, wenn man merkt, dass das einstige Zuhause ein Ort geworden ist, an dem man sich wie ein Gast benehmen muss. Früher habe ich mir eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank geholt, den Liter leer getrunken und die Packung in die Küche gepfeffert. Am Wochenende schoss ich mich auf Freibierpartys ab, schlief am nächsten Tag bis mittags und ließ die dreckige Wäsche auf dem Boden liegen. Später ließ ich mich zu meinen Freundinnen fahren, um mich aufs Neue zu betrinken. Heute stehen im Kühlschrank lauter Sachen, die ich nicht mag. Trüffel in Öl, Kapernäpfel und so ein Scheiß. Meine Klamotten lagern in Tüten und ich muss Bescheid sagen, wann ich duschen will und was meine Pläne für den nächsten Tag sind. Früher konnte man auch in Ruhe aufs Klo gehen. Kaum sitze ich heute auf dem Topf, rüttelt schon Hajo an der Tür.
Mein Handy brummt, wieder eine neue Nachricht von Magnus. Er schreibt, dass ich mich entspannen soll. Eltern seien immer anstrengend. Ich habe keine Ahnung, wie Eltern sind.
Plötzlich höre ich, wie oben im ersten Stock eine Tür aufgeht und dann die Treppenstufen knarzen. Irgendwer schleicht heimlich runter.
Bitte lass es nicht Hajo sein, denke ich.
»Sunny?«, wispert meine Mutter über den Flur.
»Hier bin ich«, antworte ich aus dem halbdunklen Wohnzimmer.
Meine Mutter schleicht barfuß in ihrem geblümten Nachthemd und offenen Fleece-Bademantel herein.
»Bist du noch wach?«, fragt sie mich.
»Ja, ich kann nicht schlafen«, antworte ich.
»Möchtest du eine heiße Milch oder lieber noch ein Glas Wein?«
Ich hieve mich aus meiner Schräglage hoch. Noch ein Schluck Alkohol und ich muss mich übergeben.
»Bloß nicht noch mehr Wein, der knallt so.«
»Ich habe alles auf dein Bett gelegt«, sagt meine Mutter, völlig aus dem Zusammenhang gerissen, und stemmt beide Hände in die Hüften, so als hätte sie gerade den Frühjahrsputz erledigt.
»Was hast du mir hingelegt?«
Sie geht nebenan in die Küche, holt zwei saubere Gläser aus der Spülmaschine und eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank.
»Die wichtigsten Briefe und Unterlagen. Ich hatte sie schon vom Dachboden geholt, weil ich Sorge hatte, dass sie vergammeln. Da oben ist es nach all dem Regen in letzter Zeit so klamm. Ich habe sie unter mein Bett gepackt«, sagt sie, als ob es um Winterpullover ginge.
Sie setzt sich aufs Sofa neben mich, klemmt die kalte Flasche zwischen ihre Oberschenkel, dreht den Öffner in den Korken und zieht ihn mit einem Ruck raus. Dann gießt sie uns ein. Sie kippt einen großen Schluck Wein in ihren Mund, zieht die Unter- über die Oberlippe und starrt auf den Boden des Glases. Sie schluckt den Wein gar nicht runter.
»Mama, was ist?«, frage ich sie und rücke ganz nah zu ihr ran.
»Ich habe dich damals zu Hause gelassen, damit er auf dich aufpassen muss«, sagt sie und knipst die Leselampe neben dem Sofa an. »… ich dachte, es würde funktionieren.«
Ich blinzle mit den Augen in das grelle Licht.
»Was würde funktionieren, Mama?«
»… ich dachte, dann passiert nichts. Aber ich konnte es nicht verhindern. Dein Vater war am Durchdrehen, deshalb habe ich ihn ja zum
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