Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
meiner Mutter, die in diesem Moment selbst wieder zu einem Kind wurde und um ihren Papa trauerte. Ich begriff, was Krieg bedeutet und wie wichtig ein solcher Ort ist, an dem man all diesen Männern gedenken kann, die ihr Leben verloren haben. Seitdem habe ich einen Bezug zu meinem Opa Werner. Der arme Kerl. Ich meine, er war 23. In das Gästebuch am Ausgang hatte einer der Besucher geschrieben: »Sie wollten doch nur leben.« Meine Mutter und ich haben total geheult.
Wir sitzen im Auto und halten wieder Händchen, allerdings mache ich es jetzt, um meine Mutter zu beruhigen. Sie flucht über die anderen Fahrer, die für ihren Geschmack viel zu dicht auffahren und sowieso alle bescheuert sind. Ich habe einen Führerschein, kann aber nicht Auto fahren. Irgendwie musste ich das nie, weil ich von meiner Mutter oder meinen Brüdern immer überall hingefahren und abgeholt wurde. Ich bin sozusagen mit Chauffeur aufgewachsen.
»Hajo bleibt bis morgen«, sagt meine Mutter. Na toll, denke ich. Eigentlich gibt es die Regel, dass er in seine eigene Wohnung geht, wenn eines von uns Kindern, vor allem wir Mädels, zu Besuch kommen, damit die Familie Zeit für sich hat. Ich will vor allem in Ruhe die Unterlagen meines Vaters durchlesen – das alles geht Hajo nichts an.
»Hallo, herzlich willkommen«, flötet er, als ich durch die Tür komme. Wie bitte, »herzlich willkommen«? Das ist mein Zuhause! Wir umarmen uns, als seien wir zwei Baumstämme. Luftküsschen links, Luftküsschen rechts. Meine Mutter verschwindet noch im Mantel auf der Toilette neben der Eingangstür. Was findet sie bloß an Hajo? Okay, gut angezogen ist er. Aber dieser gezwirbelte Schnurrbart geht gar nicht.
»Sunny!«, ruft meine Schwester Caro aus der ersten Etage. Sie springt die Treppe runter und fällt mir um den Hals.
»Wo warst du? Wir haben beim Italiener auf dich gewartet«, frage ich sie und tue übertrieben empört. Wir umarmen uns, als wären wir gerade Weltmeister geworden.
»Ich wollte noch schnell eine Runde laufen«, sagt Caro.
»Kannste das nicht auch wann anders machen?«, frage ich beleidigt.
»Ne, ich muss mich nach der Vorlesung auspowern, sonst bekomme ich schlechte Laune. Weißt du doch!«, antwortet sie.
Ich zucke mit den Schultern, Caro läuft halt für ihr Leben gern. Dann drücken wir uns noch einmal. Hajo dreht sich um und geht ins Wohnzimmer, um die Tagesthemen zu gucken. Caro streichelt mir über den Rücken. »Denk immer daran, warum dein Spitzname Sunny ist: Helena ist die Strahlende!«, flüstert sie.
»… sagt Caroline, die Aufmerksame. Schon gut, bis morgen werde ich es mit ihm aushalten.«
Caro kommt besser mit Hajo klar. Sie sagt, sie stellt auf Durchzug, wenn er über seine Aquarelle monologisiert. Und der Schnurrbart, nun ja. Auf was Mama steht, ginge uns halt nix an. Meine Mutter kommt dazu, wir drei umarmen uns im Kreis und fangen an zu lachen. Caro nimmt meine Tasche und wir steigen zusammen die Treppe hoch in den ersten Stock. Am Ende des Flurs war früher mein Zimmer, das sieht man an den Esprit- und Benetton-Aufklebern an der Tür. Meine Mutter hat umdekoriert, die Vorhänge sind neu, passend dazu hat sie Kerzen und ein Kissen gekauft. Auch wenn jetzt Gäste hier schlafen dürfen, ist es immer noch »mein« Zimmer. Es duftet nach frisch gewaschener Bettwäsche und dem Bügelwasser mit Rosenduft, das meine Mutter benutzt, wenn sie nicht in Eile ist.
»Merkst du? Sie will, dass du bleibst«, sagt Caro.
In der Ecke am Fenster entdecke ich ein Paar Nordic-Walking-Stöcke und daneben zwei Plastiktüten mit Klamotten. Die Stöcke sind von Hajo und kein Grund, auszuflippen. Er kann gern mein Zimmer als Lager für seine Sportausrüstung benutzen. Aber als ich meinen alten Bauernschrank öffne, traue ich meinen Augen nicht. Meine Klamotten sind weg. Stattdessen liegen Hajos V-Pullover, karierte Hemden und Khakihosen darin. Meine Klamotten sind die in der Plastiktüte neben dem Fenster.
»Das glaube ich jetzt nicht. Hajo hat deinen Schrank in Beschlag genommen!«, sagt Caro.
Gerade als ich »Mama« rufen will, schlüpft meine Mutter ins Zimmer und schließt sofort die Tür hinter sich.
»Ich war es, ich war es!«, beschwört sie mich.
»Wieso hast du meine Sachen in Plastiktüten gesteckt? Das ist doch mein Schrank.«
»Aber du bist kaum da und Hajo braucht eben auch ein bisschen Platz, er kann ja nicht immer mit einem Koffer anreisen. Außerdem ziehst du die Klamotten doch gar nicht mehr an«, sagt
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