Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Außerdem hat meine Mutter neuerdings auch einen Freund.
»Lass uns die Rechnung zahlen und losfahren. Ich will Caro sehen!«, sage ich.
»Wenn wir zu Hause sind, brauchst du dich nicht wundern …«, sagt meine Mutter und schaut mich eindringlich an, während ich nachdenklich auf ihre Ringe gucke. Sie trägt immer noch ihren Ehering. Es ist ein schmaler goldener Ring. Sie würde ihn nicht abziehen können, selbst wenn sie wollte. Man müsste ihn ihr vom Finger schneiden.
»Wundern, über was denn?«, frage ich.
»Wir haben dein Zimmer umgeräumt …«, antwortet sie.
»Wer ist ›wir‹?« Ich weiß, um wen es geht. Unter dem Tisch beginnt mein Fuß nervös zu wippen, die Hacke schlappt aus meinen roten Ballerinas.
»Wir haben jetzt ein paar Sachen von Hajo in deinem alten Kinderzimmer«, sagt meine Mutter plötzlich mit strenger Stimme. Hajo ist der besagte Freund.
Kennengelernt haben sie sich letztes Jahr beim Fastenwandern auf Sylt. Meine Mutter fastet zweimal im Jahr. Hajo war dort, um die überflüssigen Pfunde loszuwerden, die er sich in 15 Jahren Ehe mit einer Münchnerin angefressen hatte. Am letzten Tag hat die Fastengruppe mit einem Rote-Beete-Saft angestoßen. Währenddessen hat es zwischen Hajo und meiner Mutter gefunkt. Bei einem Rote-Beete-Saft! Ich kann das nicht wirklich ernst nehmen.
Seit diesem Wellnessurlaub auf Sylt sind sie ein Paar und Hajo ist meiner Mutter zuliebe ins Rheinland gezogen, allerdings in eine eigene Wohnung. An ihrem Jahrestag fahren sie wieder nach Sylt, um gemeinsam Kräutertee zu trinken und Einläufe zu machen. Das sei befreiend und revitalisierend, sagt Hajo. Wenn sie von »ihrem Freund« spricht, klingt meine Mutter wie ein verknallter Teenager. Ich kann ihn nicht leiden. Wo das Problem liegt? Ich muss lernen, dass meine Mutter nicht nur meine Mutter, sondern auch eine Frau mit Bedürfnissen ist. Aber warum sie auf so einen Typen wie Hajo abfährt, ist mir schleierhaft. Er ist Künstler und malt Aquarelle, die so kitschig sind, dass selbst meine Mutter sie nur im Gästeklo aufhängt. Aber die Chance, dass meine Mutter noch einmal heiratet und Hajo unser Stiefvater wird, ist gleich null.
Das Thema Heiraten ist für meine Mutter durch. Sie hat mir eingebläut, dass ich mich nie auf einen Kerl verlassen darf und eine gute Ausbildung machen muss, damit ich später auf eigenen Beinen stehe. Ihre Maxime: »Finanziell unabhängig sein.« Ich weiß nicht, wie oft sie diesen Satz wiederholt hat. Eine Million Mal?
Das kommt nicht von ungefähr. Mein Großvater fiel bei der Invasion in der Normandie, da war meine Mutter noch ein Baby. Meine Mutter kannte ihren Vater also auch nicht, sie hat nur die alte Feldpost. Sein letzter Brief ist ziemlich krakelig geschrieben, weil er da schwerverletzt im Lazarett lag, mit Schläuchen im Rücken, damit der Eiter abfließen konnte. Am Ende schreibt er nicht »Liebe Grüße, Dein Werner«, sondern »Über Not und Tod für alle Ewigkeit, Dein Werner«. Nach dem Krieg heiratete meine Großmutter wieder. Sie war Anfang zwanzig, hatte ein Baby und keine Ausbildung. Der neue Mann war nicht so wie Werner. Ich will nicht ins Detail gehen, aber er hat getrunken und den Rest kann man sich ja denken. Das Ende vom Lied war, dass meine Großmutter versuchte, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen, was ihr schließlich auch gelang, nachdem sie eine Woche lang vergiftet im Krankenhaus gelegen hatte. Damals gab es noch keine Nierenwäsche. Meine Mutter ging mit 19 von zu Hause weg, um Medizin zu studieren, und arbeitete im Krankenhaus, wo sie dann irgendwann meinen Vater kennenlernte. Sie konnte ja wirklich nicht ahnen, dass der sich eines Tages auch umbringen und das Schicksal sich wiederholen würde.
Wenn man so will, fängt das Drama meiner Familie mit dem Tod meines Großvaters im Krieg an. Das Grab von meinem Großvater haben wir erst vor ein paar Jahren besucht, weil meine Mutter all die Jahre gar nicht wusste, wo genau es liegt. Sie hatte nur ein Foto von dem Grabstein. Über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erfuhr sie dann die genaue Adresse. Das Grab liegt auf einem Soldatenfriedhof in St. Désir-de-Lisieux. Es ist der schönste Friedhof, den man sich vorstellen kann. Er besteht aus einer großen Wiese, über der alte Eichen mit ihren Ästen ein Dach aus Laub spannen. Die Grabsteine sind aus hellbraunem Sandstein. Es sind 3.735 Gräber, auf jedem Stein stehen auf der Vorder- und Rückseite jeweils zwei Namen. Ich stand neben
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