Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Eine halbe Stunde vom Notruf bis zum Tod. Ich atme aus und sage leise etwas, dass ich noch nie gesagt habe: »Ach, Papi.«
Ich nehme noch einen Schluck kalten Kaffee, weil mein Mund ganz trocken ist. Im Rohr an der Wand höre ich das Wasser rauschen. Irgendwer von den anderen duscht gerade, also habe ich Zeit, noch mehr zu lesen. Der Notarzt Dr. Petersen schildert die Ereignisse damals bei uns zu Hause wie folgt:
Heute gegen 13.20 Uhr wurde ich, zurzeit Notarzt im Krankenhaus Lingen, zu einem Selbsttötungsversuch gerufen. Gegen 13.25 Uhr traf ich im Haus ein. Der Verletzte lag blutüberströmt im Keller. Zu dieser Zeit war er sehr blass, atmete flach und unregelmäßig und war unruhig. In beiden Armbeugen waren die Adern aufgeschnitten und im Brustbereich hatte er drei Einstiche. Aus diesen Einstichen kam Luft. Ich wusste nicht, wie tief die Einschnitte waren. Daher wusste ich auch nicht, ob die Lunge oder das Herz mit durchstochen waren. Auf dem Boden im Kellerraum lag ein verschmiertes Skalpell. Von mir wurden sofort die erforderlichen Maßnahmen durchgeführt. Ich wurde von drei Sanitätern des DRK unterstützt. Jede Hilfe blieb jedoch erfolglos. Herr Schulz hatte schon kein Blut mehr im Körper.
Eine Antwort auf die Frage nach dem »Warum« scheint angesichts dieser Schilderungen ganz weit weg. Es ist nicht zu begreifen. Ich frage mich inzwischen nicht nur, warum mein Vater sterben wollte, sondern warum er so brutal sterben wollte. Er hätte sich ja auch selbst ein Rezept für Schlaftabletten schreiben können – aber da hätte die »Gefahr« bestanden, dass meine Mutter ihn rechtzeitig findet und rettet.
Dem Bericht von Dr. Petersen folgt die sinngemäße Befragung meiner Mutter. Ich denke, »sinngemäß« heißt »in Form gebracht«, weil meine Mutter während ihrer Aussage die ganze Zeit geweint hat. Ich empfinde es als Zumutung, dass meine Mutter noch am selben Tag eine Aussage machen musste. Sie hat mal erzählt, dass die Polizei anfangs sogar den Verdacht hegte, dass sie meinen Vater umgebracht haben könnte, weil sich niemand vorstellen konnte, wie sich ein Mensch selbst solche Verletzungen zufügen kann.
Im Frühling zogen wir mit unseren Kindern nach Lingen. Mein Mann und ich wollten dort jeder eine Praxis eröffnen. Vorher hatten wir im Rheinland gewohnt. Er arbeitete in einem Krankenhaus und ich versorgte die Kinder. Während mein Mann noch im Krankenhaus in Bonn arbeitete, richtete er in Lingen schon die Praxis ein. Ihm passte nicht, wie seine Station im Krankenhaus arbeitete. Er organisierte auch dort die Station um. Mein Mann war daher voll im Stress. Ich glaube, dass er seit circa einem Jahr überarbeitet war. Er war jedoch ein Typ, der vieles zugleich machen konnte. Ich kannte ihn nur so.
Wir waren der Ansicht, dass es zu spät werden würde, wenn wir uns nicht jetzt selbständig machten. Ende März oder April, das weiß ich gerade nicht, hörte mein Mann auf, im Krankenhaus zu arbeiten. Am 1. Juli eröffnete er in Lingen seine eigene Praxis. Ich sollte in den nächsten drei bis vier Monaten meine Praxis in der Etage darüber einrichten. Mein Mann war bereits zu diesem Zeitpunkt sehr depressiv. Erst in letzter Minute, das heißt am Freitag vor dem Eröffnungstermin seiner Praxis, waren die Arbeiten beendet. Dies ging sehr an seine Nerven. Er konnte auch nicht verstehen, dass die Leisten in seiner Praxis noch nicht gestrichen waren. Er regte sich über jede kleine Schwierigkeit, die er sonst mit Leichtigkeit genommen hätte, übermäßig auf.
Mein Mann war ein guter Arzt und überall beliebt. Aber in seiner neu eröffneten Praxis lief es auch nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte zwar schon in dieser kurzen Zeit über 25 Patienten, jedoch hatte er Schwierigkeiten mit dem Röntgengerät. Die Bilder waren nicht so, wie er es sich vorstellte. Seine Angestellten mühten sich zwar ab, konnten aber nichts ändern, weil ein Protokoll falsch war. Obwohl dieses Problem zu lösen war, regte er sich übermäßig darüber auf. Er sagte auch mehrmals: »Ich kann nicht mehr.« Über jede Kleinigkeit, die misslang, verzweifelte er.
Vor circa zehn Tagen hatte er einen Verkehrsunfall. Das Auto war zwar totaler Schrott, doch er bekam keinen Kratzer ab. Er war an diesem Unfall allein beteiligt. Während eines Gesprächs am Unfallabend sagte er: »Wenn du wüsstest, wie es in mir aussieht.« Nach diesem Vorfall sagte er immer häufiger: »Ich kann nicht; ich kann nicht mehr; ich will nicht
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