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Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)

Titel: Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa von Heyden
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dem Foto für eine Frisur? Ich muss lachen, die kleinen Löckchen sehen wie ein Minipli aus.
     
    Geburtsort: Lüneburg.
    Geburtstag: 28. Juni. Jetzt ist 2004. Nächstes Jahr
    hätte er seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert.
    Gesichtsform: oval – so wie mein Gesicht.
    Augenfarbe: blau-grün – so wie bei mir.
    Größe: 180 Zentimeter.
    Besondere Kennzeichen: keine.
    Ausgestellt wurde der Ausweis in den Siebzigerjahren. Auf den hinteren Seiten des Büchleins klebt ein Visum für Thailand.
    Auch die Todesanzeige hat meine Mutter aufbewahrt. Früher haben wir am Wochenende immer zusammen die Traueranzeigen in der Zeitung durchgelesen, es war unser gemeinsames Hobby. Keine Ahnung, seit wann wir das machten und wer von uns damit angefangen hatte. Man erfuhr meistens nicht, warum jemand gestorben war, es sei denn, der Tote hatte einen Unfall gehabt, war an Krebs oder einer seltenen Krankheit gestorben. Dann las man das irgendwie zwischen den Zeilen raus. Manchmal war auch ein Spendenkonto angegeben, auf das man Geld überweisen sollte, statt einen Tannenkranz mit Polyestersatinschleife zum Friedhof zu schleppen. Ich rechnete immer aus, wie alt der Verstorbene war. Gelegentlich erfuhr man, welchen Beruf er oder sie hatte, weil die Arbeitskollegen auch eine Anzeige geschaltet hatten. Mich interessierte, wie die Familienangehörigen hießen und ob man zufällig jemanden davon kannte.
    Aber die Traueranzeige, die ich jetzt in den Händen halte, ist anders. Ich bin eine von denen, deren Namen auf dem Papier stehen. Mir wird flau, als ich sie aus dem Kuvert hole, ich habe sie mir vorher noch nie angeschaut. Die Karte ist groß und man kann sie aufklappen. Ich lese mir selbst vor:
    Unser Trost ist, dass er ausgelitten hat. Unfassbar für uns alle, verloren wir meinen so sehr geliebten Mann und unseren Vater.
    »Ausgelitten« – pah! Das klingt so, als sei mein Vater nach langer Krankheit gestorben, und sagt nichts darüber aus, wie er wirklich gestorben ist, nämlich durch eigene Hand an einem schönen Samstagvormittag in einer Badehose im Keller.
    Nicht nur mein Name kommt mir fremd vor, sondern auch Lingen, die Stadt, in der wir damals gelebt haben. Es ist so, als sei die Stadt auf einem anderen Planeten. Lingen liegt im Emsland in Niedersachsen. Meine Eltern sind damals dorthin gezogen, um sich selbstständig zu machen. Ein Jahr später zogen wir wieder ins Rheinland zurück – ohne Vater. Ich werde niemals das Haus vergessen, in dem wir in Lingen gewohnt haben. Es war ein großes Fachwerkhaus mit einem weitläufigen Garten, der an ein lauschiges Wäldchen und eine Kuhweide grenzte, über der morgens immer ein Nebelschleier schwebte.
    Ich fische einen dicken Stapel aus den Unterlagen, der mit Klammern zusammengeheftet ist. Das Papier ist gelblich und riecht nach Abstellkammer. Der Text wurde auf der Schreibmaschine getippt, die Fehler sind mit weißer Farbe überpinselt oder mit schmalen Papierstreifen überklebt. Ein Blatt davon ist die Todesbescheinigung meines Vaters. Früher habe ich mir manchmal vorgestellt, dass mein Vater irgendwo doch noch lebt, mit einer anderen Identität, in einem anderen Land, und dass ich eines Tages durch Zufall plötzlich vor ihm stehe. Aber hier steht es schwarz auf weiß: Mein Vater ist tot, sein Körper verbrannt und die Asche im Meer verstreut. Der Zeitpunkt des Todes: 13.30 Uhr. Todesart laut Bescheinigung:
    Nicht natürlicher Tod (Unfall, Selbstmord, Tod durch strafbare Handlung oder sonstige Gewalteinwirkung).
    Der beiliegende Bericht ist von einem der Polizisten verfasst, die vor Ort waren. Ich nehme einen Schluck von dem Haselnusskaffee, der mittlerweile kalt geworden ist. Das wird jetzt anstrengend.
    Gegen 13.25 Uhr teilte mir ein Kollege aus der Notrufzentrale mit, dass ein Mann versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Nach dieser Mitteilung fuhr ich sofort zu der angegebenen Adresse und traf dort gegen 13.35 Uhr ein. Im Keller des Hauses traf ich Dr. Petersen, Notarzt vom Krankenhaus Lingen, drei Sanitäter vom Deutschen Roten Kreuz sowie den Nachbarn der Familie, Herrn Böhm, an. Alle waren mit Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Dr. Schulz beschäftigt. Im Erdgeschoß stand weinend die Ehefrau. Kurze Zeit später, circa gegen 13.55 Uhr, wurden die Erste-Hilfe-Maßnahmen und die Wiederbelebungsmaßnahmen abgebrochen. Dr. Schulz war an seinen Verletzungen gestorben.
    Als ich diesen Satz lese, fühlt sich mein Körper von der Nase bis zu den Zehenspitzen taub an. Ich rechne die Zeit aus:

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