Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Psychologen geschickt. Samstag ist er gestorben, Dienstag hätte die Therapie angefangen. Ich wünschte, ich hätte uns das alles ersparen können«, sagt sie.
»Und ich wünschte, du hättest das nicht alles erleben müssen!«, antworte ich ihr. Ich schlinge meine Arme um sie und presse meinen Kopf an ihren Bauch. Sie wiegt mich hin und her.
»Da warst du mal drin«, sagt sie. »Du bleibst immer mein Mädchen.« Sie küsst meinen Kopf und wischt mir mit dem Zipfel ihres Nachthemdes die Tränen aus dem Gesicht. Ich kann nicht in Worte fassen, was ich sagen möchte. Ich liebe sie so sehr, bin ihr so dankbar und bewundere sie so sehr. Ich würde alles dafür geben, dass meine Mutter nicht dieses Schicksal hätte erleben müssen. Sie hatte sich ihr Leben ganz anders vorgestellt, so wie sich jede Frau eine glückliche Familie wünscht. Aber dann geht ihre große Liebe, mit der sie zusammen gesunde Kinder hat und sich gerade eine gemeinsame Existenz aufbaut, mit der sie alles geteilt, geträumt und so viel erlebt hat, eines schönen Tages in den Keller und lässt sie im Stich. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen – ich wäre gleich mit ins Grab gesprungen.
Aber mein Vater hat ja kein Grab. Vielleicht hatte er Sorge, dass eines Tages jemand volle Pulle gegen den Grabstein treten würde, seine wütende Tochter zum Beispiel. Er wollte keinen Stein, auf dem in goldener Schrift ein Gedicht oder Zitat aus der Bibel steht, sondern eine Seebestattung. Nichts sollte an ihn erinnern, schon gar nicht ein rechteckiges Blumenbeet. Aber wie sollen eine Frau ihren Mann und die Kinder ihren Vater von einem auf den anderen Tag vergessen?
Allerdings passt die Seebestattung zu meinem Vater: Er war gebürtiger Norddeutscher und hatte immer Sehnsucht nach der Küste. Als junger Mann war er bei der Marine und fuhr mit der Gorch Fock zur See. Er liebte Segeln und Surfen. Caro hat mir mal eine Kassette vorgespielt – darauf hörte man nichts anderes als Wellenrauschen. Wir haben uns vorgestellt, wie mein Vater mit einem Recorder am Strand sitzt und auf die Aufnahmetaste drückt. Andere Leute nehmen die Musik im Radio auf, mein Vater eine Stunde lang nichts weiter als das Meer.
Seine Leiche wurde verbrannt und die Asche vor Norderney verstreut.
53° 45' Nord, 7° 03' Ost – das sind die Koordinaten, an denen das Bestattungsunternehmen die Urne versenkt hat. Caro hat eine Kopie der Seekarte zusammen mit einem Foto von meinem Vater an die Pinnwand in ihrem Zimmer geheftet, daher weiß ich das. Ich habe mir früher immer vorgestellt, dass an dieser Stelle auf dem Grund des Meeres Hunderte dieser Urnen stehen, und fand es schrecklich, wie ein Konservenlager unter Wasser. Meine Mutter hat mir dann aber erklärt, dass sich die Gefäße öffnen und die Asche wie Brausepulver im Meer verteilt wird. Mein Vater ist also überall und nirgends. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb bis heute nicht mit seinem Tod auseinandergesetzt. Hätte ich jedes Mal heulen sollen, wenn ich an einem Strand entlanglief und das Meer meine nackten Füße umspülte? Das Gegenteil ist der Fall: Wie die meisten Leute bin ich glücklich, wenn ich am Meer bin. Ich genieße die salzige Luft und den weiten Blick und schaue den Möwen nach, wie sie zum Horizont fliegen. Vielleicht hat er sich das genau so gewünscht. Man weiß es nicht, denn es gibt keinen Abschiedsbrief, nur einen Fetzen Papier, auf dem steht:
Ich liebe Dich, aber ich kann nicht anders.
Meine Mutter bewahrt den Zettel bis heute in ihrem Schmuckkästchen auf, zusammen mit dem Smaragdring ihrer Mutter. Ich finde, der Satz ist eine Unverschämtheit. Was soll das heißen? Natürlich hätte er anders gekonnt. An dieser Stelle würde meine Mutter mir wieder erklären, dass mein Vater krank war, bipolar oder manisch-depressiv eben.
»Komm, ich bring dich ins Bett«, sagt meine Mutter. Sie hat nicht gemerkt, dass ich auf ihrem Schoß eingeschlafen bin.
Am nächsten Morgen sitze ich im Schlafanzug im Bett und trinke Kaffee mit Haselnussgeschmack – auch dieses Lebensmittel ist Hajo zu verdanken, es schmeckt nach dem dritten Schluck ganz okay. Hauptsache, ich werde wach, denn auf meinem Schoß liegt eine rote Mappe mit dem ersten Teil der Unterlagen. Eine Vase mit Freilandrosen duftet auf dem Nachttisch, daneben ein Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette. Mami. Ich ziehe das Gummi von den Ecken der Mappe ab, da fällt mir als Erstes der Reisepass von meinem Vater in den Schoß. Meine Güte, was hat er auf
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