Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
bei Freunden abholt, mir neue Schuhe kauft oder dem ich mehr Taschengeld aus den Rippen leiern kann. Einer, der mit den Ohren an meiner Zimmertür geklebt hätte, als das erste Mal ein Junge bei mir zu Besuch war, oder mir an meinem achtzehnten Geburtstag das erste »offizielle« Bier spendiert hätte. Ich habe niemanden, der mich zum Altar führt.
»Hätte, hätte, Fahrradkette«, sagt eine Freundin von mir immer, weil sie es sinnlos findet, sich über die Frage »Was wäre, wenn?« den Kopf zu zerbrechen. Aber ich würde es trotzdem gern wissen: Wie hätte es sich angefühlt, einen Vater zu haben? Meine Mutter erzählt werdenden Eltern immer, dass die Tochter die größte Liebe im Leben eines Mannes ist.
Nach dem Abendessen – Hajo hat eine wirklich köstliche Lammkeule gemacht – und einem langen Telefonat mit Magnus, in dem ich immer wieder beteuere, ihn sehr zu vermissen und bald nach Berlin zurückzukommen, setzen meine Mutter, Caro und ich uns ins Wohnzimmer und trinken Earl Grey. Als die Moderatorin das Wetter für die nächsten Tage ankündigt, schläft meine Mutter auf dem Sofa ein. Da wir sie nicht wecken wollen, decken meine Schwester und ich sie mit einer großen, weichen Wolldecke zu und schleichen in mein Zimmer.
»Ich will dich was fragen«, sage ich oben angekommen. Wir sitzen vor dem Bett auf dem Boden, die Beine lang vor uns ausgestreckt. Früher kam Caro immer mit ihren Freundinnen zum Rauchen zu mir. Meine Mutter fand das okay, sie glaubte, Verbote machen Verbotenes nur interessanter. Wir würden schon selbst auf den Trichter kommen, dass Rauchen alt und hässlich macht, und so war es dann auch.
»Erzähl mal, an was du dich von früher erinnerst«, bitte ich meine Schwester.
»Ich erinnere mich, in Lingen im Flur zu stehen, weiße Fliesen am Boden, die Haustür ist offen und ich stehe an der Treppe. Es kommen drei Männer in weißen Kitteln rein, rennen an mir vorbei, die Kellertreppe runter. Im Keller stehen auf der Seite direkt neben der Treppe braune Regale aus Holz mit ganz viel Werkzeug drin. Die Bohrmaschine liegt ein bisschen über Augenhöhe. Meiner Freundin habe ich früher erzählt, die Bohrmaschine wäre geflogen und hätte Papi umgebracht. Ich dachte, es wäre so gewesen«, sagt Caro, als sei es die natürlichste Sache der Welt, dass sich zwei Schwestern über den Tag unterhalten, an dem sich ihr Vater im Keller umgebracht hat. Es ist toll, keiner weint und wir können offen reden. Wer sollte darüber reden, wenn nicht wir?
Während meine Schwester erzählt, beobachte ich ihre Augen, ob sie sich mit Wasser füllen, und höre, ob sich ihre Stimme verändert. Ich will sie immer beschützen. Aber nicht nötig. Caro ist ganz cool, ausgeglichen, ihre Worte klingen nach Verständnis und sind voller Liebe für meinen Vater. Sie wirkt so reif auf mich, dabei ist sie das Nesthäkchen. Mir wird in diesem Moment wieder einmal klar, wie sehr ich meine Schwester liebe. Ich liebe sie von ganzem Herzen, wie sie ist und wie sie die Welt sieht. Ich kann meinen Herzmuskel spüren, wenn ich an sie denke, mit jedem Gedanken an sie wird er stärker. Sie ist ein so süßes Mädchen und das meine ich nicht im Sinne von »niedlich«. Ich wünschte, ich wäre ein bisschen mehr wie sie. So fein. Ihr Lachen ist so mitreißend und man sieht ihr an, dass sie ein Mensch ist, der keinem etwas Böses will. Sie weiß, dass jeder Mensch eine gute Seite hat, und wird nicht müde, sie bei einem jeden zu suchen. Sie ist so lieb, dass man sie schon in dem Moment vermisst, in dem sie sich verabschiedet. Wenn man mit ihr telefoniert, möchte man durch die Leitung kriechen, um bei ihr zu sein und mit ihr zu lachen. Sie ist Mitte zwanzig, weise wie eine alte Schildkröte und irgendwie so eins mit sich. Und wenn ich bei ihr bin, bin ich es auch. Caro sagt, das läge alles am Laufen. Würde sie nicht laufen, wäre sie ein Ekel.
»Die Treppe war aus Marmor, weißem Marmor. Wir beide haben gar nicht verstanden, was los war. Wir waren einfach noch viel zu klein«, sage ich.
»Ich weiß, dass Mami uns oft versucht hat zu erklären, was passiert ist, aber ich konnte es mir nie merken und war immer wieder schockiert zu hören, dass er sich umgebracht hat«, sagt Caro.
»Ich erinnere mich noch, dass du beim Umzug Fieber hattest«, sage ich und merke, wie es mir jetzt doch die Kehle zuschnürt. Ich stelle mir vor, wie jung Caro damals war, ein Küken. Sie hatte Angst, im Dunkeln zu schlafen, deshalb brannte in unserem
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