Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
sterben?
Du wärst auch ohne mich gegangen! Hattest bereits ausgekundschaftet, dass es am besten wäre, die Scheidung steuerlich auf das nächste Jahr zu vertagen. Du hattest mich maßlos verletzt!
Aber ich habe mir Mühe gegeben, für Dich offen zu bleiben. Nie, nie habe ich mich für einen anderen Menschen derart überwinden können. Weil ich Dich liebe, nur deshalb. Ich habe mich gesträubt gegen Lingen.
»Ich habe mich, Dich, uns noch nicht sortiert«, schrieb ich Dir. »Hast Du es?« Dahinter hast du ein dickes »Ja!« geschrieben. Nichts hattest Du! Du warst ganz allein mit Dir und man musste die Tür zu Dir aufbrechen.
Ich liege auf meinem Bett und starre an die Decke. Das Tagebuch meiner Mutter halte ich fest in meiner Hand und presse es gegen mein Herz. Wie konnte sie das aushalten? Eine Freundin meiner Mutter sagte kurz nach dem Tod meines Vaters zu ihr: »Er hätte es nicht getan, wenn er nicht gewusst hätte, dass du stark genug bist.« Wenn ich meinen Vater eines Tages im Himmel wiedertreffen sollte, werde ich ihm genau für diese Annahme eine reinhauen. Blieb ihr etwas anderes übrig, als stark zu sein?
Meine Eltern haben über eine Scheidung nachgedacht, das wusste ich nicht und es im Nachhinein zu erfahren, tut weh. Was wäre gewesen, wenn sich meine Eltern getrennt hätten? Die Eltern von meiner Schulfreundin Kathi sind getrennt, für sie war das auch ganz schlimm. Vor meinen Augen sehe ich meine Mutter mit einem neuen Partner – meinetwegen Hajo – und auch meinen Vater, der sich neu verliebt hat. Wir Kinder leben bei unserer Mutter, besuchen unseren Vater aber regelmäßig. Seine neue Freundin ist jünger und wünscht sich ein Kind von ihm.
Ausgelöst durch das Tagebuch meiner Mutter werden in meinem Kopf plötzlich die Erinnerungen an jene seltsamen Tage, kurz nachdem es passiert ist, wach.
Es ist Abend. Meine Mutter liegt auf dem Bett und weint. Ihr dunkelblaues Nachthemd mit den weißen Sternen hat sich vom Hin- und Herwälzen um ihren Körper gewickelt. Sie liegt den ganzen Tag auf dem Ehebett, die Bettwäsche von meinem Vater neben ihr ist unberührt. Meine Mutter hält die Hände vor ihr Gesicht und weint und weint. Für kurze Zeit ist sie ruhig und ich glaube, sie schläft. Dann beginnt ihr Körper wieder zu beben, sie weint atem- und tränenlos, bis sie keine Luft mehr bekommt, ihr Mund sich öffnet und sich ein Schwall Luft in ihre Lunge saugt. Tante Eva ist zu uns nach Lingen gekommen. Sie bringt meiner Mutter immer wieder eine Tasse Kamillentee. Meine Mutter lässt alles kalt werden. Sie will weder trinken noch essen. Sie geht nicht aufs Klo, will keine frische Luft durch das Fenster hereinlassen. Keiner weiß, was zu tun ist. Es ist, als wären wir in einer Zeitschleife gefangen. Tante Eva sagt, dass sich Mami ausruhen muss. Wir sitzen auf der weißen Treppe, keiner von uns geht in die Schule oder in den Kindergarten. Caros und meine Haare sind wie Vogelnester. Tante Eva sagt, wir sehen wie Schiffbrüchige aus. Unser Zuhause ist ein Geisterhaus. Draußen herrscht der heiße Sommer, drinnen die dunkle Eiszeit. Die Jungs haben keine Lust zu spielen. Keiner redet mit uns.
Ein paar Tage später kommt meine Mutter geduscht und dunkel gekleidet in unser Spielzimmer und sagt, dass wir Papi beerdigen müssen. Caro und ich spielen so lange weiter mit unseren Duplosteinen, bis Tante Eva mit einer Bürste in der Hand in unser Zimmer rauscht und uns weiße Blusen und schwarze Samtkleider anzieht. Als Caro eine Strumpfhose anziehen soll, bekommt sie einen Schreikrampf und wehrt sich. Sie strampelt und boxt im Stehen auf der Stelle, so lange, bis Tante Eva sagt: »Komm, dein Papi freut sich, wenn du dich für ihn so fein machst.«
Caro runzelt die Stirn. Dann steigt sie freiwillig in die Strumpfhose.
Eine Weile später sitzen wir in einem Raum mit niedriger Decke, wir Kinder mit Mami vorn in der ersten Reihe, hinter uns eine leise schniefende Verwandtschaft. Alle haben dicke, geschwollene Augen. Ich dachte damals, sie wären alle von Bienen gestochen worden. Vor uns stehen eine lange hellbraune Holzkiste und viele Blumen. Caro und ich haben nicht begriffen, dass die Kiste ein Sarg ist, in dem unser Vater liegt. Ich weiß sogar noch, dass mir während der Trauerfeier stinklangweilig war.
Danach wankt meine Mutter über den Friedhof. Der Pfarrer rennt hinter ihr her und ruft: »So beruhigen Sie sich doch!« Meine Mutter beruhigt sich nicht. Sie weint immer doller und als der Pfarrer sie an
Weitere Kostenlose Bücher