Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
ich auf, meine Schwester liegt neben mir, eine hellgraue Wolldecke über den Kopf gezogen. Nach unserem Gespräch sind wir beide auf dem Boden eingeschlafen. Draußen zwitschern die Amseln und Meisen in der großen Trauerweide im Garten und durch das Rollo erkenne ich, dass wieder die Sonne scheint. Der Duft von gebratenen Zwiebeln steigt mir in die Nase. Meine Mutter kocht, wie sie es oft morgens am Wochenende macht. Erst dreht sie sich im Badezimmer ihre Haare auf Lockenwicklern ein, dann geht sie runter in die Küche und brät irgendein Fleisch an, meistens so was wie Hack, Nürnberger Würstchen oder – mein Favorit – Gulasch. Das kocht dann so lange, bis das Fleisch so zart ist, dass man die Bröckchen nur mit einer Gabel zerteilen kann.
»Guten Morgen«, grummelt Caro, als sie aufwacht und merkt, dass ich sie beobachte. Ich strecke meine Arme aus, die vom Schlafen auf dem Boden wehtun, und entdecke, dass vor meinem Bett zwei große weiße Stoffbeutel stehen. Beide sind prall gefüllt mit irgendwelchen Plastikkisten. Jemand muss die Beutel heute Nacht hier hingestellt haben, gestern waren sie noch nicht da. Ich krabbele auf allen vieren hin, um nachzuschauen, was genau da drin ist. In dem einen Beutel befindet sich der alte braune Diaprojektor meines Vaters, den ich noch von früher kenne. Zu besonderen Anlässen hat er die Leinwand im Wohnzimmer aufgebaut und eine Diavorführung für uns gemacht.
Die Fotografie war eine Leidenschaft von ihm. Im Kleiderschrank von meiner Mutter liegt bis heute seine alte Kamera, ein richtiges Profigerät mit verschiedenen Objektiven und so. Wir haben dicke Alben mit Fotos aus unseren Kindertagen im Rheinland: Wie wir alle zusammen im Sommer draußen grillen, auf der Wiese toben und auf der Schaukel spielen, im Streichelzoo die Ziegen füttern, im Winter dem Schneemann eine Möhre ins Gesicht stecken, wie wir erst mit und dann ohne Stützräder im Wendehammer am Ende der Straße Fahrradfahren lernen, im Sommer mit den Nachbarskindern auf der Terrasse Geburtstag feiern und Topfschlagen spielen. Wie wir an Weihnachten bei Kerzenschein Fondue machen, wie meine Schwester und ich am Esstisch mit Wasserfarben malen, wie die Jungs vor der Garage Fußball spielen, wie wir baden und dabei heulen, weil das Shampoo in den Augen brennt, wie wir im Auto schlafen, wie meine Schwester eine Banane isst und ihr die Matsche in den Haaren hängt. Heute kann ich gar nicht glauben, dass mein Vater diese Fotos gemacht hat, weil alles so schön aussieht. Die Aufnahmen von Caros und meiner Taufe sind bei unseren Dia-Abenden immer der Höhepunkt gewesen, zumindest für mich, weil ich an diesem Tag laufen lernte. In die Kirche wurde ich noch im Buggy geschoben, raus kam ich allein gewatschelt. Der Pfarrer sah das als ein Zeichen an. Meine Eltern hatten für die anschließende Feier ein derart üppiges Büffet bestellt, dass meine Brüder noch heute davon schwärmen. Heute serviert man Tomate-Mozzarella und Hühnchen-Zitronengras-Spießchen, damals gab es mit Kresse und Kaviar garnierte Eier, einen fußballgroßen Käse-Igel, Frikadellen, Salate, Obst-Pyramiden und eine mit Schokospänen übersäte Eisbombe. Das Highlight aber war ein Berg gebratener Wachteln, die weiße Papierpuschel um die Keulchen trugen. Meine Brüder streiten bis heute darüber, wer von ihnen die meisten Vögel verdrückt hat. Aus der Zeit in Lingen gibt es keine Fotos.
In dem zweiten Beutel vor meinem Bett finde ich noch mehr Dias. Ich halte Dia um Dia gegen das Licht, um das Motiv erkennen zu können. Es sind Szenen aus unserem einst glücklichen Familienleben, festgehalten auf kleinen Plastikkarten. Meine Eltern trugen Schlaghosen und Cordmäntel und wir Kinder hatten Topffrisuren, die uns meine Mutter im Badezimmer mit der Nagelschere schnitt. Es gibt auch ein paar Kästen mit Bildern aus den zwei Monaten, in denen mein Vater für den Malteser Hilfsdienst während des Bürgerkriegs in einem Khmer-Flüchtlingslager an der Grenze zwischen Thailand und Kambodscha gearbeitet hat. Ich wusste davon, er hat ja diese blauen Batisthemden aus Thailand mitgebracht und laut meiner Mutter war er von Land und Leuten begeistert, aber ausführlich beschäftigt habe ich mich mit seiner Reise nie.
Caro und ich nicken uns zu – wir beschließen, die geplante Einkaufstour durch die Stadt zu verschieben und stattdessen den alten Diaprojektor aufzubauen. Die Rollläden bleiben unten. Wir gehen zusammen ins Bad und putzen uns die Zähne. Dann
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