Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
eine Stelle in der Bibel erinnert, in der es um den Glauben an Gott geht, rennt sie los und wir Kinder hinter ihr her. Auf einem Sandweg hinter der Kirche sackt sie in sich zusammen und setzt sich mit dem Hintern auf den nassen Boden. Sie hält sich mit beiden Händen die Augen zu und weint. »Wie soll es bloß weitergehen?«
Als meine Mutter sieht, dass wir alle vor ihr stehen, stemmt sie sich hoch, setzt sich auf ihre Knie und nimmt uns alle auf einmal in den Arm. »Versprecht mir, dass wir das zusammen schaffen.«
»Wir schaffen das«, sagen die Jungs.
Caro sagt: »Wir haben dich lieb.«
Jeden Tag krochen wir aus der Trauer ein Stück weiter ins Leben zurück. Aber es gab immer wieder auch schlechte Tage. Als wir das erste Mal wieder im Supermarkt waren, warf meine Mutter lustlos Lebensmittel in den Einkaufswagen. Sie wollte nichts mehr kaufen, was mein Vater gemocht hatte und was uns an ihn erinnerte. Eine Scheibe vom »falschen« Käse und alle waren wieder traurig. Die Frau an der Fleischtheke fragte, wie das Grillfest neulich war. Meine Mutter schaute sie mit offenem Mund an. Die Verkäuferin rollte zwei Scheiben Fleischwurst und reichte sie Caro und mir über die Theke. Beim Bezahlen an der Kasse brach meine Mutter zusammen, als sie den ganzen Quatsch sah, aus dem man kein Abendessen machen konnte. Sie ließ alle Lebensmittel auf dem Band und im Wagen liegen und stürmte aus dem Laden. Caro und ich rannten wieder hinter ihr her, meine kleine Schwester mit ihrer Handtasche im Arm. Im Gegensatz zur Fleischfrau kannte die Kassiererin meine Mutter und wusste, was los war. Wortlos stornierte sie den Bon und räumte die Ware weg. Vor der Tür ging meine Mutter in die Knie, drückte uns beide an sich und weinte. Caro fragte, ob meine Mutter traurig sei, weil sie keine Wurst bekommen hatte. Da lachte meine Mutter das erste Mal wieder, schaute mich und Caro an und sagte: »Ihr seid mir genug von ihm auf dieser Welt!«
Wir lachten, denn wir dachten, jetzt würde alles gut. Vieles wurde anders. Mit Hilfe von Verwandten und Freunden machte meine Mutter »Klarschiff«, wie sie sagte. Nachdem die beiden Arztpraxen wieder verkauft waren, konnte sie den Rückzug ins Rheinland organisieren. Unsere Sachen wurden in Kartons gepackt, die Küche versank in einem Chaos aus Töpfen, Gewürzstreuern und Besteck, von unserem Spielzimmer möchte ich gar nicht erst reden. Ich erinnere mich, wie wir alle im Auto saßen und losfuhren. Das Leben ging weiter.
Ich habe mich oft gefragt, was aus meiner Familie geworden wäre, wenn mein Vater sich nicht umgebracht hätte. Wenn er leben würde, wäre alles anders. Die Frage ist, ob besser oder schlechter. Nicht nur, dass wir all die Jahre wie alle anderen Familien an Heiligabend singend unter dem Tannenbaum gesessen hätten. Ich wäre heute eine andere Person.
In meiner Vorstellung hoffe ich natürlich, dass meine Eltern heute noch zusammen wären. Dieses Jahr wäre, glaube ich, ihr 35. Hochzeitstag. Sie würden mit ihren Kindern und Enkeln in ihr Lieblingsrestaurant gehen und meine Geschwister und ich würden ihnen zusammen ein Wochenende in einer aufregenden Stadt wie Istanbul schenken.
Wie würde mein Vater jetzt wohl aussehen, mit sechzig? Ich kenne meinen Vater als Mann Ende dreißig, mit Oberlippenbart und langer Matte. Wären seine Haare heute grau und hätte er einen dicken Bauch, der sich unter seinem Hemd abzeichnet? Wie gern würde ich ihn sehen, wie er mit meiner Mutter im Garten sitzt, die Zeitung liest, den Rasen mäht oder mit seinen Enkelkindern spielt. All diese Momente. Ich fände es sogar toll, wenn er mich anbrüllt, nur um zu erfahren, wie es ist, wenn man Ärger von seinem Vater bekommt. Ich hätte ihn so gern kennengelernt.
In einer Karaokebar sang ich vor einiger Zeit Papa Don’t Preach von Madonna, ohne einen Schimmer davon zu haben, wie es ist, einen Vater zu haben, der einem Vorschriften macht. Es gab so viele Situationen, in denen ich mir gewünscht habe, er wäre da: Wenn die Kette von meinem Fahrrad raussprang, wenn ich in der Schule weder Mathe, Physik noch Chemie kapierte, bei meiner Konfirmation, damit meine Mutter nicht allein zwischen den anderen Eltern sitzt. Ich hätte gern einen Vater gehabt, der mit mir Autofahren übt, mit dem ich im Urlaub am Strand Volleyball spielen kann und der mir Surfen beibringt. Einer, der mir Kosenamen wie »Töchterchen« gibt, am Frühstückstisch die Zeitung liest und mit uns Wetten, dass..? guckt, der mich abends
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