Hinter dem Blau: Ein kleines Mädchen verliert seinen Vater. Eine junge Frau findet zu sich. (German Edition)
Zimmer auch nachts immer eine Lampe, die den Raum in ein schummriges Orange hüllte.
Caro bemerkt, wie ich wieder gegen die Wut kämpfe, und tätschelt meine Hand.
»Ich weiß, dein Zorn …«, sagt sie und zwinkert mir zu. »Darum gehe ich laufen. Das ist das Einzige, was mir hilft, den Kopf freizubekommen.«
»Wenigstens für dich hätte er versuchen müssen, sich helfen zu lassen!« Nicht wissen zu wollen, was aus seiner Tochter eines Tages wird, ihr nicht beim Großwerden zugucken – es will mir nicht in den Kopf, warum nicht einmal Caro für ihn ein Grund zum Leben war.
Caro redet weiter: »Ich erinnere mich, dass ich jede Nacht zu Mami ins Bett gekrabbelt bin, viele Jahre lang. Ich konnte nicht schlafen, ohne zu wissen, dass sie da ist. Und ich erinnere mich, wie wir beide unserer Kindergärtnerin in Lingen Tschüss sagten. Wir haben für sie weiße Tauben aus Papier und Federn gebastelt.«
Wir halten uns an den Händen, so wie wir es früher gemacht haben, als wir, jeder mit einer Alukanne in der Hand, die Straße runter zum Milchbauern liefen. Der Bauer molk die Kühe vor unseren Augen und wenn wir zu Hause ankamen, war die Milch noch warm. Es war Caros Lieblingsgetränk, diese vollfette Kuhmilch, in der manchmal noch Grashalme schwammen.
»Ich musste den Jungs und Mädchen aus dem Kindergarten noch Kunststücke auf dem Klettergerüst im Garten vormachen. Mami wollte es nicht beim Umzug mitnehmen, obwohl Papi es selbst für uns gebaut hatte«, sage ich. »Diese Zeit nach seinem Tod ist ein frei schwebendes Stück Erinnerung, irgendwo in meinem Kopf. Ich erinnere mich nicht an die Gesichter der anderen Kindergartenkinder, nur daran, wie ich oben auf dem Gerüst an den Seilen baumle.«
»Ich weiß auch noch, wie wir beide hinter dem Haus im Wald durch das tiefe Laub gerannt sind. Wir haben es in die Luft geworfen und uns gegenseitig Blätter hinter die Ohren gesteckt. Da war auch diese Wiese mit einer großen Kuh, die einen Nasenring hatte. Dort haben wir frische Milch geholt. In den Alukannen, weißt du noch?«
»Ja, ich habe mich auch gerade daran erinnert. Du hast die Milch so gern getrunken. Wie ein Kalb. Den Wald vergesse ich nie, die hohen Bäume und der weiche Boden. Wie ein Trampolin aus Laub.«
Caro lächelt, zieht meine Hand zu ihrem Gesicht hoch und legt meinen Handrücken an ihre warme Wange. Ich wünschte, ich könnte mit ihr zurück in die Vergangenheit, noch einmal klein sein und mit ihr alles angucken, bevor unsere Welt zerstört wurde. Wie gut es ist, eine Schwester zu haben.
»Ich erinnere mich an unsere Betten und an das Gefühl, mit dir in einem Zimmer zu schlafen. Und ich erinnere mich, mit einer Nuckelflasche voll Apfelsaft an einer Heizung zu lehnen – ich bin krank und der Apfelsaft ist etwas Besonderes, den haben wir nicht oft pur gekriegt, sondern meistens nur als Schorle. Und ich weiß noch, wie du diese eine Platte zerbrochen hast, For Your Eyes Only von Sheena Easton, weil ich das Lied immer wieder gehört habe und du die Musik nicht ertragen konntest. Du hast behauptet, traurige Musik macht traurig, und ich habe geantwortet: ›Stimmt nicht! Traurige Musik macht nicht traurig, sondern tröstet.‹«
Wir stimmen den Song an und singen die einzige Zeile, die wir auswendig kennen: »You’ll see what no one else can see, and now I’m breaking free, for your eyes only …«
»War das nicht der Titelsong von einem James-Bond-Film?«, fragt Caro mittendrin. Wir müssen lachen. Die Aktion mit der Platte war gemein von mir, aber ich habe es gehasst, wenn Caro diese Schnulze gehört hat. Die Wahrheit ist: Ich habe es gehasst, dass sie sich an meinen Vater erinnern wollte. In meinen Augen verdiente er keine Aufmerksamkeit. Ich wollte nicht an ihn denken, also sollten es andere auch nicht.
»Ist dir mal aufgefallen, dass wir uns beide bei Gruselfilmen die Ohren statt der Augen zuhalten?«, frage ich Caro.
»Vielleicht waren die Geräusche an dem Tag so gruselig, Mamis Schreien und die Krankenwagensirene. Du kannst dich besser erinnern, du hast ihn ja gehört. Ich weiß noch, dass ich jedem davon erzählt habe, du aber niemandem. Noch heute spüre ich den Zwang, es den Leuten ins Gesicht zu schreien, wenn ich das Gefühl habe, sie denken, ich wäre unglücklich, nur weil er sich umgebracht hat. Im Gegenteil: Ich fühle mich stark.«
»Wieso das denn?«
»Es ist das Gefühl, von klein auf gelernt zu haben, dass etwas Dunkles in der Welt ist.«
Am nächsten Morgen wache
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