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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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lassen, aber als gute Nachbarn von Sonjas Eltern wollten sie mich natürlich bis vor die Haustür fahren. Perser lassen eine Fünfzehnjährige nicht einfach an einem Taxistand aussteigen, zumal außer mir und Sonja wohl keine einzige Fünfzehnjährige in Teheran allein mit einem Taxi fuhr.

    Als ich die Treppen nach oben ging, hörte ich schon jede Menge lauter Stimmen, die alle durcheinander redeten, und als ich die Tür aufschloss, standen viele fremde Leute in unserer Diele und verabschiedeten sich. War die große Besprechung etwa schon vorbei? Es war sieben Uhr, wir waren fünf Stunden im Auto unterwegs gewesen. Ich sah in dem Getümmel Bita und Parvaneh mit ihren Eltern. Dann sah ich Lucie mit einem traurig aussehenden Mann, das war wohl ihr Vater, ihre blonde Nutten-Mutter sah ich nirgends. Aber dafür meine eigene. Sie hatte ein geblümtes Wickelkleid an, die Haare hochgesteckt und sah eher nach Brautschau aus als nach Krisen-Elternsitzung. Sie kam mit verkniffenem Gesicht auf mich zugelaufen:
    »Ah, da ist ja Madame endlich!«, höhnte sie. »Ein wenig spät.«
    Ich ignorierte sie.
    »Ist die Besprechung schon vorbei?«, fragte ich Bita.
    Mein Vater nickte mir zu und kniff die Augen nervös zusammen.
    »Und was ist jetzt? Gehen wir alle auf dasselbe Internat nach Deutschland?«
    »Nein! Niemand geht auf ein Internat, haben wir eben alle beschlossen. Die, die jetzt nach Deutschland gehen, haben alle deutsche Mütter und Verwandte und sind in einer ganz anderen Situation. Ihr habt ja keine Verwandten in Deutschland, ihr bleibt hier und geht alle auf dieselbe Schule.«
    Ich klappte den Mund auf, um zu schreien, da sagte Bitas hübsche Mutter, die ich eigentlich mochte: »Nein, wir haben alle gesagt, wir schicken die Kinder nicht alleine ins Ausland.«
    Ich sah verzweifelt erst meine Mutter, dann meinen Vater an. Dann angewidert die anderen Eltern.
    »Wieso musste ich denn unbedingt nach Hause kommen? Dafür sollte ich nach Hause kommen? Ich dachte, wir besprechen, in welches Internat ich soll? Ihr seid so scheiße! Du bist so scheiße! Ich hasse euch, ihr wollt mich verarschen, ich will nicht hier auf die Schule, ich will nach Deutschland!«
    »Du machst erst dein Abitur, dann kannst du in Deutschland studieren«, sagte meine Mutter mit kalter Befehlsstimme.
    »Abitur? Das sind noch vier Jahre! Ich bring mich um, wenn ich so lange hierbleiben muss.«
    Ich rannte in mein Zimmer, drehte mich um und schrie meine Mutter vor den ganzen Leuten noch einmal an: »Du bist so scheiße! Du böse, hässliche, alte Hexe!«
    Dann knallte ich die Tür zu und warf mich auf mein ausnahmsweise gemachtes Bett. Mein Kopf dröhnte. Meine Mutter hatte mich natürlich total gelinkt. Sie hatte mich mit Gewalt aus meiner Sorglosigkeit am Kaspischen Meer herausgezerrt, nur um mir hier mitteilen zu können, dass mein restliches Leben ruiniert war. Ich wusste nicht, was in diesem Moment schlimmer war. Dass ich heute vollkommen sinnlos diese entsetzliche Fahrt durchgemacht hatte, nur um wieder allein in der doofen Wohnung in der öden, heißen Stadt herumzusitzen. Oder die Tatsache, dass meine Mutter eine unglaublich hinterhältige Kuh war, die mir den Spaß am Meer nicht gegönnt hatte. Oder die grauenvolle Aussicht auf eine persische Schule. Oder das Alleine-am-Ende-der-Welt-Zurückbleiben, während alle meine Freunde im Ausland sein durften. Die anderen, die heute mit ihren Eltern bei uns waren und auch zurückbleiben würden, zählten nicht. Ich sah auf das schwarze Plattencover, das an mein Regal gelehnt stand: »Dark Side of the Moon«. Ob Pink Floyd so etwas meinten, als sie die Platte so nannten? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich erst auf dem Mond und jetzt nach hinten gerutscht war. Das hier war die dunkle Seite. Ich war also in der Gruppe der Ärmsten der Armen gelandet. Jetzt hierbleiben und auf eine persische Schule zu müssen, war schlimmer als beim Skikurs nicht mitzufahren, keine Jeans tragen zu dürfen, auf keine Partys eingeladen zu werden, nach Kopftalg zu riechen oder persische Adidas mit nur zwei Streifen anzuhaben.
    Aber ich fand an dem Abend die Boshaftigkeit meiner Mutter am schmerzhaftesten. An eine persische Schule konnte ich nicht glauben. Ich wusste, ich könnte meinen Vater überzeugen, aber die Hexe würde mir mit ihrem Geschrei alles verderben. Er wollte auf jeden Fall, dass ich Karriere machte mit einem tollen Beruf, aber auf einer persischen Schule war ich verloren, denn danach müsste ich auf eine

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