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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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dich nicht lächerlich«, sagte mein Vater und nahm sich von den grünen Bohnen. »Ich schicke dich nicht allein nach Deutschland. Man kann dir nicht trauen.«
    »Du lernst ja noch nicht einmal hier, wo wir dich beaufsichtigen können, wie soll das werden, wenn du dort ganz alleine bist, ohne Aufsicht?«
    »Total schön wird das«, sagte ich patzig.
    »Ja, das wissen wir, dass das schön wird für dich, wenn du uns nicht mehr sehen musst! Und wir wissen auch, dass du uns hasst«, sagte sie böse,»aber wir werden nicht einen Haufen Geld ausgeben, damit du dich in Deutschland zur Hure ausbilden lassen kannst! Das hast du dir so gedacht.«
    Ich stand auf und ging zur Wohnungstür, öffnete sie und ging raus.
    »Koja miri …!«, schrie sie mir hinterher.
    Ich schloss die Tür leise von außen und rannte schnell die Treppen nach unten, an der Tür meiner Oma vorbei durch die Auffahrt im Garten und durch das Eisentor auf die Straße. Es war schon nach zehn abends und vollkommen dunkel. Aber die Straßen waren voller Lärm und Verkehr, als wäre es Mittag. Um diese Uhrzeit waren keine Frauen mehr allein auf der Straße und schon gar keine Fünfzehnjährigen.
    Ich lief unsere Kutsche entlang, am geschlossenen, dunklen Kouroush vorbei, der Bürgersteig vor dem Kaufhaus war nass, und ein breites Rinnsal dunkler, stinkender Gülle rann den Asphalt daneben entlang. Nach Geschäftsschluss wurde die Straße von den Angestellten mit Wasser abgespritzt, damit der Müll und die verfaulten Lebensmittel, die sich im Laufe des Tages auf der Straße neben den Müllsäcken ansammelten, weggewaschen wurde. Ich ging auf die laute Pahlewi Avenue und setzte mich auf eine freie Bank direkt vor der hell erleuchteten Tankstelle. Drei verbeulte Peykan, ein rostiger Suzuki Van und ein brauner Chevrolet warteten an der einzigen funktionierenden Zapfsäule, weil Benzin rationiert war und es pro Auto nur noch hundert Liter im Monat gab. In allen Autos saßen nur Männer, um diese Uhrzeit tankten keine Frauen mehr. Ein unrasierter Typ in einer zerdrückten grauen Anzughose und einem hochgeknöpften braunen Hemd betankte die Autos und dienerte devot mit der rechten Hand auf der braunen Brust, wenn ihm jemand Geld zusteckte. Es war Ende August und sogar nachts noch ziemlich heiß draußen. Der Asphalt hatte sich mit der glühenden Hitze des Tages aufgeladen und war warm unter meinen hellblauen Espadrilles, sicherlich noch dreißig Grad. Tagsüber hätte ich meine nackten Kniekehlen an dem Metall der Bank verbrannt. In knapp einer Woche wären die Sommerferien auf der Deutschen Schule zu Ende gewesen, und ich wäre zusammen mit Sonja und allen anderen in die neunte Klasse gekommen. Nichts Besonderes, aber jetzt, wo es so weit weg war, sehnte ich mich nach der Selbstverständlichkeit, wieder in meine Schule zu dürfen. Ich wollte in meine Schule! Und selbst das, was eigentlich immer Scheiße war, lag in Trümmern. Nur weil ein Haufen Außerirdischer mit ihren Ufos hier hinter dem Mond gelandet waren. Hier konnte anscheinend jeder außer mir machen, was er wollte, und einer konnte unbehelligt allen seine außerirdischen Regeln aufzwingen, die sinnlos und abartig waren. Und ausgerechnet ich saß hier, wo sich niemand mehr dafür interessierte, was geschah. Warum rettete uns niemand? Warum kamen nicht die Präsidenten von Amerika und Deutschland und sagten: »Aufhören!« Und warum passierte mir das alles? Warum konnte ich nicht einfach ein friedliches deutsches Teenager-Dasein leben, in einem kleinen hübschen Haus, mit Einbauküche und Farbfernseher, einer Hollywood-Schaukel in einem grünen Garten, in dem man im Sommer Erdbeerkuchen essen und Würstchen grillen konnte, mit saftigen Wiesen hinter dem Haus, anständigem Fernsehprogramm und Schnittchen auf Brettchen zum Abendbrot?
    Ich wusste, dass das, was vor mir lag, noch schrecklicher sein würde, als das, was ich bisher erlebt hatte, und ich war nicht bereit, das durchzuhalten. Ich konnte einfach nicht, denn es gab keinen Lichtblick, der mir Hoffnung machte. Ich saß eine Weile da, atmete den beruhigenden Benzingeruch vor mir und die Abgase hinter mir ein, akustisch eingekesselt von dem Lärm um mich herum, und fühlte mich plötzlich für einen klitzekleinen Moment entsetzlich alleine. Niemand kam und reichte mir die Hand und rettete mich, das hilflose Opfer, abhängig von den Entscheidungen von zwei gefährlichen Verrückten, die mich aus einer perfekten Welt heraus hierher in die Hölle geschleppt

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