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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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lieber hätte ich mir einen Strick um den Hals gelegt. Ich kannte nur die übriggebliebenen Mädchen aus unserer alten Klasse: die schöne Bita, die total frustrierte Pari, die stille Shirin mit dem tollen Haus und ihre beste Freundin Streber-Simin. Shirins attraktiver Bruder war bei den Großeltern in Deutschland, und sie war freiwillig dageblieben, was ich nicht verstehen konnte. Und es gab noch ein Mädchen, das aber vorher auf dem Realschulzweig war: Golnaz. Wo der große Rest herkam, wusste ich nicht. In der ersten Stunde stellte sich eine hässliche Schwangere mit zu dünn gezupften Augenbrauen und hoher Kieksstimme vor die Klasse und begann, mit ihrer schrecklichen Stimme laut gegen den Klassenlärm anzuschreien, wir sollten still sein, sonst müssten wir alle zur Direktion.
    Den Unterricht in der allerersten Stunde nach den Ferien mit Keifstimme und Drohungen zu beginnen, fand ich merkwürdig und das hysterische Gekreische meiner neuen Mitschülerinnen auch. Mein Herz hatte sich zusammengezogen, als ich mich nach dem Klingeln auf meinen Platz auf der letzten, sicheren Bank setzte und den Anblick der 34 hellblauen Kittel von hinten genießen konnte und den dicken, aggressiven Pinguin im braunen Kittel und hellbraunen Kopftuch und den dicken Füßchen in zu engen Pumps vorne vor der Tafel. Über der Tafel hing jetzt ein Bild von Chomeini in einem goldenen Rahmen. Mit seinem grauen, ekligen Rauschebart und seinen kleinen fiesen Augen starrte er uns an und schämte sich anscheinend nicht, einen lächerlichen Turban auf dem Kopf zu haben.
    Der Unterricht gestaltete sich sowohl in dieser ersten Persische-Literatur-Stunde wie auch an allen Stunden danach so, dass ein Pinguin in einem Affentempo die Tafel vollschrieb, und alle das, was an der Tafel stand, schweigend in ihre Hefte kritzelten. Ich legte nach zehn Minuten den Stift zur Seite und schaltete ab. Ich konnte nicht entziffern, was auf die Tafel geschrieben wurde, weil ich die meisten Wörter nicht kannte. Und in dem Tempo, in dem die Frau das Zeug an die Tafel schrieb, hätte ich ihr kaum auf Deutsch folgen können. Zudem malte ich meine persischen Schriftzeichen immer noch. Ich war superlangsam und musste bei jedem Wort überlegen, welche Buchstaben hineingehören könnten, und die Ergebnisse meiner Überlegungen waren natürlich mit Fehlern übersät. Ich hatte gerade mühsam die erste Reihe auf der Tafel abgemalt, da hatte der Pinguin die unterste Reihe fertiggeschrieben und entdeckte erstaunt, dass man die Tafel aufklappen und drinnen weiterschreiben konnte. Er klappte auf, und alle außer mir schrien laut auf: Moment!
    In persischen Schulen waren die Tafeln schwarz und unbeweglich an der Wand festmontiert, die Möbel in den Klassen aus dunklem, billigen Holz, und die Gebäude waren weit davon entfernt, hübsche, gepflegte Bungalows in einem Villenpark mit alten Bäumen zu sein. Man hatte uns überfallen. Wir waren besetzt. Ich wurde gezwungen, mitanzusehen, wie meine ganze Welt, meine Sachen, der einzige Ort, an dem ich mich die Jahre in Teheran überhaupt ein wenig Mensch gefühlt hatte, entweiht, besudelt und missbraucht wurden.

    Als es klingelte, ging unser deutsches Grüppchen gemeinsam aus dem Klassenzimmer im zweiten Stock nach unten. Das Lehrerzimmer war früher auch im zweiten Stock, direkt oben am Treppenaufgang. Bei den Deutschen war es still, leise und respekteinflößend. Und außer zum Klassenbuch abgeben oder einen Entlassungsschein abholen hatten wir uns gar nicht hineingetraut, zumal das Büro des Direktors direkt daneben war.
    Jetzt glich das Lehrerzimmer einem Taubenschlag, in den man hineingeschossen hatte. Man hörte schon von weitem lautes Weibergekreische, schlimmer als bei den Lions-Club-Treffs meiner Mutter bei uns zu Hause, wenn alle schon ein paar Gläser intus hatten.
    Das Lehrerzimmer war so voll, dass einige der Pinguine aus dem Vorraum, wo vorher der Schreibtisch unserer Sekretärin gestanden hatte, herausquollen. Alle schrien wild durcheinander, als wäre eben drinnen ein Brautpaar getraut worden, aber leider waren die Pinguine nicht so angezogen wie auf einer Hochzeit üblich. Ich wusste wirklich nicht, was mich mehr deprimierte: der Anblick dieser unzähligen kartoffelförmigen blauen und braunen Mäntel mit Kopftüchern obendrauf oder der penetrante Geruch nach Reis und schlechtem persischen Essen mit diesem stinkenden Bockshornklee, wie es nur arme Leute in ihr Essen taten.
    Wir standen davor und konnten es alle nicht

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