Hinter dem Mond
durcheinander zu schreien und sich Taschentücher oder die Zipfel ihrer Kopftücher vors Gesicht zu halten. Einige waren aus dem Gebäude hinausgerannt und suchten nach dem Hausmeister. Sie dachten wohl, ein Rohr oder etwas Schlimmeres wäre explodiert und die Schule würde gleich mitsamt ihrem Asch-Topf auf dem kleinen Gaskocher in die Luft fliegen. Anscheinend wussten die doofen Außerirdischen nicht, dass es diesen üblen Schwefelgestank in kleinen Glaskapseln in allen Scherzartikelgeschäften überall auf unserem Planeten normal zu kaufen gab. Unsere DST-Lehrer hätten sofort gewusst, dass einer eine Stinkbombe geworfen hatte, und hätten sich nur an die Stirn getippt. Mit einem so großartigen Effekt hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Es war ein herrlicher Anblick, wie diese dummen, bösen Weiber da vollkommen hilflos standen, weil sie etwas dermaßen Schlimmes noch nie gerochen hatten. Ein berauschendes Gefühl von Überlegenheit und Befriedigung überkam mich. Menschen, die wegen ein bisschen Faule-Eier-Gestank dermaßen die Kontrolle verloren, konnten mir nichts tun. Ich fühlte mich plötzlich stark, stärker als alle zusammen. In diesem Moment überkam mich ein erfüllendes Gefühl des inneren Friedens und der Ruhe, das ich nie vergessen werde. Von den zehn glücklichsten Stunden meines Lebens war dies sicher die erste.
Zwei Tage später waren meine Eltern abends irrsinnig aufgeregt, saßen den ganzen Abend im Fernsehzimmer vor dem Weltempfänger und hörten die Deutsche Welle. Der Iran hatte dem Irak den Krieg erklärt, und alle Grenzen und der Luftraum waren gesperrt. Wir waren alle zusammen eingesperrt. Ich, Sonja, Lucie, Pouri und die Kinder, die es noch nicht geschafft hatten, eine meiner London-Tanten war auch noch da, weil irgendetwas mit ihrem persischen Pass war. Ich wusste nicht, ob ich das schlimm oder beruhigend fand. Immerhin war ich nicht mehr das letzte arme Schwein, dessen Eltern kein Internat wollten. Es war Krieg. Irgendwie auch aufregend, fand ich. Meine Eltern redeten von Bomben, die auf uns geworfen würden, und dass die Russen bestimmt bald einmarschieren würden, so wie in Afghanistan. Das war ja nebenan.
Am nächsten Morgen wurde für die nächsten Abende eine generelle Ausgangssperre verhängt, und zwar ab Punkt acht Uhr. Mein Vater musste die Praxis spätestens um halb sieben schließen, damit er vor der Ausgangssperre zu Hause war. Ansonsten hätte er in der Praxis übernachten müssen. Damit niemand Licht anschalten und damit den irakischen Bombern den Weg weisen konnte, wenn sie über Teheran flogen, wurde der Strom in der ganzen Stadt abgestellt. Jetzt mussten sie eigentlich noch das Wasser und die Luft abstellen, dachte ich.
Meine Mutter schrie mich an, als ich morgens wie immer vor meinem Kleiderschrank stand, es wäre Krieg und keine Modenschau mehr notwendig und ich sollte nach der Schule gefälligst mit dem Bus nach Hause kommen, denn man wüsste nicht, was in der nächsten Stunde passierte.
Jetzt hörte man dauernd dieses Wort: dschang (Krieg)!
Abends saß ich im Schein einer unserer neuen Öllampen in meinem Zimmer, hörte »New Kid in Town« von den Eagles und tat sonst nichts. Meine Balkontüren standen offen, meine langen Vorhänge wehten freundlich im warmen Abendwind, als wäre alles normal, aber es war total still und dunkel draußen, vollkommen verrückt für diese Zeit. Normalerweise war auf der Pahlewi Ave um diese Zeit ein Höllenverkehr, den ich trotz der Entfernung abends in meinem Zimmer hörte. Aber die Totenstille war beängstigend, dabei war es noch nicht einmal dunkel.
Ich beneidete Armin, der jetzt in München ins Kino gehen und »Die blaue Lagune« mit Brooke Shields sehen konnte. Ich hatte in einer Bravo vor etwa einem halben Jahr gelesen, dass der jetzt in Deutschland in die Kinos kam. Bei dem Gedanken, dass Armin ins Kino ging, um sich die halbnackt in einer Lagune schwimmende Brooke anzusehen, musste ich lachen, weil ich wusste, dass dies ein Mädchenfilm war und Armin sich den mit Sicherheit nicht ansehen würde. Aber ich würde jetzt gern nach einem Einkaufstag in meinen neuen Klamotten ins Kino gehen und mir die wunderschöne Brooke ansehen. Ich begann, mir den Tag auszumalen, Hand in Hand mit Armin durch die schicksten Boutiquen laufen und später aus dem großen Haufen neuer Sachen etwas aussuchen und ins Kino gehen, um dort weiter Händchen zu halten. Stattdessen glotzte ich auf meine hässlichen Vorhänge, die dem Geschmack eines
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