Hinter dem Mond
zehnjährigen Mädchens von 1975 entsprachen, aber jetzt vollkommen deplatziert wirkten. Meine Mutter hatte mir schon mehrmals neue Vorhänge vorgeschlagen, aber ich hatte keine Lust, das war so, als würde man mich bitten, mir einen neuen Sarg auszusuchen. Fernsehen konnte man auch nicht, denn da kam schon lange nichts mehr, was keinen Turban oder Tschador trug. Ich hatte »Ein Mann für gewisse Stunden« bekommen, als Raubkopie von Arash, einem der hiergebliebenen Jungs aus unserer ehemaligen Parallelklasse, aber das ging ja nicht ohne Strom. So versuchte ich etwas zu lesen.
Mein Vater war unten bei seinen Eltern, und sie überlegten, ob man den Keller als Bombenbunker nutzen könne. Die Ausgangssperre und die Hysterie der Erwachsenen lähmten mich und machten mich allem gegenüber noch gleichgültiger als sonst. Im Fernsehen und Radio nölte einer die ganze Zeit, alle sollten in den heiligen Krieg ziehen, um im Namen und Auftrag des Imam Chomeini zu sterben und als Märtyrer in den Himmel zu kommen, denn der Märtyrertod dauerte nur eine Sekunde, und was danach käme, wäre der Hit.
Meine Großeltern waren hysterisch, und mein Großvater war richtig krank geworden vor Angst. Er hatte den ganzen Tag schweren Durchfall. Als ob der etwas zu verlieren hätte. Der saß doch sowieso auch ohne Krieg jeden Abend im Dunkeln, um Strom zu sparen, schaute nie fern, hörte nie Musik und ging um acht ins Bett.
Am nächsten Tag stand der schwangere Pinguin vorne und erzählte etwas von Hafez, einem großen persischen Dichter. Ich verstand nichts von dem Gedicht, es handelte von süßen Früchten und Liebesbäumen, jedenfalls thematisch vollkommen uninteressant. Die Sprache war für jemanden mit meinem Sprachniveau noch unverständlicher als ein Gedicht von Rilke für meinen Vater.
Jedenfalls hatte ich abgeschaltet, schaukelte auf meinem Stuhl hin und her und konzentrierte mich darauf, möglichst große Blasen mit gleich zwei Hubba Bubbas zu produzieren, die ich morgens in meiner Lederjacke gefunden hatte. Es war jetzt kühl genug für eine Jacke, aber ich musste meine geliebte Lederjacke über dem blauen Kittel tragen, was sowohl der Jacke als auch mir jegliche Coolness raubte. Alle sahen so aus, mit dem blauen Lappen unter den Jacken, und ob meine Jacke jetzt von Daniel Hechter aus Paris oder aus Abdullhassans Laden in Tadjrish war, ließ sich nicht mehr unterscheiden, fand ich. Meine Mutter nervte zusätzlich mit ihren saublöden Sprüchen, jeden Tag kamen haufenweise fiese Kommentare, egal, was ich tat. An diesem Morgen hatte sie nur beim Anblick der Jacke gesagt, sie wäre froh, dass ich jetzt eine Uniform tragen müsste und jetzt gäbe es endlich keine großen Auftritte von Lilly Chanum mehr in der Schule.
Aber sie redete mittlerweile sowieso nur noch Blödsinn, sodass die einzelnen Gemeinheiten mich nicht mehr verletzten. Ich musste alleine zurechtkommen, auf meine Eltern konnte ich nicht mehr zählen.
Während ich so meinen Gedanken nachhing, spürte ich, wie es um mich herum still wurde. Ich sah mich um und wunderte mich, warum mich einige anstarrten, als würden sie auf etwas von mir warten.
»Hast du mitbekommen, was ich zu dir gesagt habe?«, schrie mich der Pinguin von vorne an.
Bita zischte mir etwas zu: »Entschuldige dich!«
Entschuldigen? Wofür?
»Nein. Was haben Sie zu mir gesagt?«, antwortete ich gelangweilt.
Sie schrie jetzt noch eine Nuance lauter: »Dein Anblick ist so lächerlich! Wenn du wüsstest, wie lächerlich du bist! Morgen bringe ich eine Kamera mit und mach ein Foto von dir, damit du siehst, wie lächerlich du aussiehst!«
»Na gut«, sagte ich, jetzt betont gelangweilt, »dann bringe ich auch eine Kamera mit und mache ein Foto von Ihnen. Wir können die Bilder nebeneinanderstellen, und dann sehen wir ja, wer von uns beiden lächerlich aussieht.«
Ich hatte kurz gestockt, weil ich das persische Wort für »vergleichen« nicht wusste. Aber es hatte trotzdem gut geklappt.
Der Pinguin schnappte nach Luft. Dann kam sie in ihrem braunen Mantel auf mich zu gewalzt, packte mich einfach am Arm, zog mich mit einer erstaunlichen Kraft hinter sich her durch die ganze Klasse bis zur Tür und schrie dabei mit ohrenbetäubender Kreischstimme:
»Raus! Raus aus meiner Klasse! Du bist ein Stück Dreck und hast meinen Unterricht nicht verdient. Geh zur Direktorin und melde dich! Verschwinde!«
Alle waren mucksmäuschenstill. Ich flog durch die Tür auf den Flur und drehte mich noch einmal um,
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