Hinter dem Mond
Arzt?«
»Bepanthen und Paracetamol. Und an deiner Stelle würde ich zwei Valium nehmen.«
Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür und legte Blondie »Autoamerican« auf, aber nicht zu laut, denn ich brauchte unbedingt Ruhe.
Dann zog ich meine Jeans vorsichtig aus und sah mir das Elend an. Meine Beine sahen nicht mehr perfekt, sondern total scheiße aus. Ich stand lange in meinem weißen Slip vor dem Spiegel und sah mich an.
Ich war lang, dünn und braun mit roten Knien und lila Schienbeinen.
Und dann begann ich zu singen:
The tide is high but I’m holding on
I’m gonna be your number one
I’m not the kind of girl who gives up just like that
Oh, no!
It’s not the thing you do that tease and wound me bad
But it’s the way you do the things you do to me
I’m not the kind of girl who gives up just like that
Oh, no!
The tide is high but I’m holding on
I’m gonna be your number one
Number one, number one.
Und plötzlich war alles wieder gar nicht mehr so schlimm. Ich spulte zurück, hörte das Lied noch mal und noch mal und grinste die ganze Zeit, obwohl es wirklich gar keinen Grund dafür gab.
Abends zeigte ich meinem Vater meine Beine und sagte, ich hätte starke Schmerzen und könne nicht laufen. Er untersuchte mein Knie auf Bruchstellen, meinte dann, es wäre nichts gebrochen, nur stark geprellt und was ich auf der Mauer zu suchen gehabt hätte. Und ich sollte das Knie lieber schonen, Eis darauf legen und auf keinen Fall zur Schule gehen.
Am nächsten Tag lag ich provokativ in Shorts auf dem Bett, die Beine dick mit Bepanthen eingeschmiert.
Meine Mutter kam zu mir rein, brachte eine Schüssel mit hellgelben Melonenstücken, setzte sich zu mir aufs Bett und wollte verbotene Geschichten aus meinem Leben hören. Ich musste innerlich lachen bei der Vorstellung, was ich alles erzählen könnte.
»Und, wie lange wollen Sonjas Eltern Sonja noch zu Hause behalten?«
Ich zuckte mit den Schultern und sagte lieber nichts, sonst verplapperte ich mich noch und sie kapierte, dass ich jeden Tag bei Sonja und Dee verbrachte.
Aber meine Mutter aß mit Appetit ihre mitgebrachten Melonenstücke und erzählte, dass Pouri jetzt ohne Klaus mit den Kindern mit dem Bus zur türkischen Grenze und dann nach Ankara fahren würde. Um dann von Ankara nach Deutschland zu fliegen. Und dass ihre Schwester Gita, die in ihren Sommerferien vom Krieg überrascht worden war, auch mit diesem Bus fahren würde und dann nach London weiterflog.
»Kann ich nicht mit denen mit?«, fragte ich hoffnungsfroh.
»Wie willst du über die Grenze? Hast du einen deutschen Pass?«, fragte meine Mutter spöttisch.
Nein, hatte ich nicht. Iraner durften nicht ausreisen, die mit anderen Pässen verschwanden jetzt alle mit Bussen, Sonja hatte schon davon erzählt. Aber sie hofften noch darauf, dass der Flughafen bald wieder geöffnet wurde. Dee wollte nicht mit Kind und Kegel im Bus fliehen.
Am nächsten Tag fuhr ich wieder mit dem Taxi zu Sonja. Sie war sauer, weil ich einfach abgehauen war.
»Lucies Mutter ist gekommen!«, schnauzte sie mich an. »Hat uns alle fertiggemacht und ist mit Lucie und Alain weggefahren.«
Ich zog meine Hose runter, damit sie meine schweren Verletzungen sehen konnte. Meine Oberschenkel waren großflächig aufgeschürft, mein rechtes Knie war dick geschwollen und mein Vater hatte es orange eingepinselt. Darunter verfärbte es sich blau.
»Sie hat uns alle auf der Straße zur Sau gemacht, und Madame setzt sich ins Taxi … Oh mein Gott! Tut es sehr weh?«
Ich nickte ernst und drehte mich zur Seite und zeigte ihr meinen aufgeschürften Hüftknochen, auch eingepinselt.
Dann zog ich meine Karottenjeans langsam hoch und verzog dabei leidend das Gesicht.
Außer mir fuhr keines der Mädchen allein mit den orangen Taxis, jetzt erst recht nicht mehr. Meinen Eltern war es egal, und mir gefiel diese ungewohnte Nähe zum Volk. Man saß mit Leuten im selben Auto, mit denen man sonst nie in Berührung kam. Die Fahrer und die anderen Fahrgäste waren meistens völlig verwirrt, wenn sie mich plötzlich aus der Nähe sahen. Ein so junges Mädchen fuhr in Teheran nicht ohne Begleitung Taxi. Und keine Frau aus der Oberschicht setzte sich in eines dieser verbeulten orangen Taxis, sie stellten sich nicht schreiend an den Straßenrand. Und man konnte an meinem Aussehen und meiner Kleidung nicht nur von weitem erkennen, dass ich zur verpönten Oberschicht gehörte, sondern mittlerweile auch meine westliche Gesinnung und die
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