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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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unfromme Geisteshaltung, was mir jederzeit zum Verhängnis hätte werden können. Überall waren Pasdaran, die einen grundlos mitnehmen und verhaften konnten, oder andere Fanatiker, die ihre islamische Republik von einer so reichen, verdorbenen West-Tussi wie mir bedroht sahen. Immer mehr Frauen hatten Angst, allein unverschleiert auf der Straße herumzuspazieren. Mir war das alles egal. Ich hatte zwar Angst vor der Zunge eines Jungen in meinem Mund, aber nicht vor den Sittenwächtern. Ich dachte gar nicht daran, dass mich jemand verhaften könnte. Wenn ich irgendwo hinwollte, dann wollte ich dahin, und zwar sofort. Ich hatte keine Geduld, nach einem Telefon zu suchen, um meine Mutter anzurufen, damit sie den Fahrer losschickte, um mich irgendwo abzuholen. Zumal sie ja meistens gar nicht wissen sollte, wo ich war. Und unser Fahrer hatte mich auch schon mehrmals verpetzt, deshalb wollte ich mit ihm nichts mehr zu tun haben.
    Gerne hätte ich meinen eigenen Fahrer gehabt, den ich selbst anrufen konnte und der meinen Eltern nichts sagte, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein erwachsener Perser Lust hätte, für ein fünfzehnjähriges Mädchen zu arbeiten. Für einen Jungen natürlich schon, aber niemals für ein armseliges Mädchen.
    Sonja und ich riefen Lucie an, um sie nach dem Rest der Geschichte zu fragen.
    Lucie flüsterte und hörte sich gehetzt an.
    »Wieso flüsterst du? Wirst du belauscht?«, fragte ich unwirsch.
    »Meine Mutter ist immer noch sauer und denkt, ihr seid schuld, dass ich den Scheiß mitgemacht habe.«
    »Was?« Ich konnte es nicht glauben. Typisch persische Glucke! Immer waren die anderen Kinder schuld!
    »Ich muss auflegen«, rief Lucie, »meine Mutter erwartet einen Anruf aus Deutschland.«
    »Ja, von ihrem Stecher …«, höhnte Sonja neben mir. Wir hatten den Lautsprecher an. Stecher war ein tolles Wort. Ich hörte es zum ersten Mal.
    »Kommst du zu uns?«
    »Ich muss auflegen, die flippt gleich aus.«
    Lucie hatte aufgelegt.
    Nun waren die Telefonleitungen damals in Teheran so, dass beide Teilnehmer auflegen mussten, um ein Gespräch zu unterbrechen. Wenn nur einer auflegte, blieb die Verbindung bestehen.
    Mich ritt plötzlich der Teufel. Ich legte den Hörer sachte auf das Tischchen neben das Telefon und grinste Sonja an. Sie grinste zurück und biss sich auf die Unterlippe vor Vergnügen. Wir hörten, wie die Mutter ständig die Gabel hoch- und runterdrückte, um die Leitung zu befreien.
    Dann begann sie entsetzlich zu schimpfen und immer wieder klack-klack-klack auf die Gabel zu hauen. Ich musste mir die Hand vor den Mund halten, um kein Geräusch von mir zu geben.
    Dann hörte ich Lucies Mutter auf Persisch in den Hörer brüllen: »Leg auf, du Nutte, leg auf, oder ich komm und zerreiße dich. Du kannst was erleben, du Nutte …« Sie schrie in einem fort.
    »Komm, lass uns gehen …« Ich zog Sonja hinter mir her aus ihrem Zimmer. Und schloss leise von außen die Tür. Der Hörer blieb neben dem Telefon liegen.
    Wir riefen ein Taxi und ließen uns zum Schahanschahi-Park fahren. Dort ließen wir uns von den Typen mit der Polaroid zweimal für je einen Zehner fotografieren. Ein Bild für jede von uns. Zwei schmale, langbeinige Mädchen in Jeans und zu großen Sweatshirts, ernst und unschuldig in die Herbstsonne blinzelnd, im Hintergrund die gezuckerten Spitzen des Elburz-Gebirges.
    Als ich nach Hause kam, saß meine Mutter vor dem Fernseher und fragte:
    »Und? Wie war’s heute in der Schule?«
    »Ganz gut, wie immer«, sagte ich. Dann ging ich in die Küche, um abzuchecken, was es zu essen gab.
    Meine Mutter kam hinterher.
    »Was habt ihr heute für Unterricht gehabt? Was wurde durchgenommen?«
    Was stellte die für Fragen, da stimmte doch etwas nicht.
    Ich erzählte ihr in extrem gelangweilten Ton minuziös einen der Schultage vor acht Wochen, als ich das letzte Mal dort gewesen war.
    Zwischendrin fragte ich, um sie abzulenken: »Was gibt es heute zum Abendessen?«
    »Kuft«, schrie sie mich an.
    Ich zuckte zusammen.
    »Was redest du für einen Scheiß? Du warst seit zwei Monaten nicht in der Schule, mein Fräulein!«
    Verdammt. Ich stand völlig ungeschützt mitten in der Küche und konnte leicht von einem Flugobjekt getroffen werden.
    »Du lügst uns jeden Tag etwas vor, wo warst du die ganze Zeit? Bist wohl auf den Strich gegangen, was? Rumgehurt hast du!«
    Ich musste einen Weg finden, an ihr vorbeizuschleichen, aber das hätte den sicheren Tod bedeutet. Sie fuhr gerade

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