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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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Riesenaufregung in der Klasse. Zu meinem Erstaunen heulte Bita. Sie hatte eine ganz dicke Nase und heulte anscheinend schon länger. Das hatte ich noch nie erlebt – in der Schule heulen war uncool.
    »Dreimal haben sie ihn rasiert! Mit Rasierklinge …« Dann kamen ihr wieder die Tränen.
    Golli stand mit großen Augen daneben, und Pari hatte auch Tränen in den Augen.
    Ein paar andere Mädchen standen um unseren Tisch und redeten durcheinander.
    Ich packte Golli und zog sie zur Seite. Sie war komplett aus dem Häuschen.
    Die Party hatte wohl gerade begonnen, die Musik lief laut, und es stand jede Menge Alkohol herum, Wodka und Whisky, da schrie jemand: Komitee! Komitee! Und schon kamen etwa zehn Pasdaran in voller Montur einfach in die Wohnung gestürmt. Irgendjemand hatte ihnen den Tipp gegeben, dass da Jungen und Mädchen zusammen eine Party feiern würden. Gemischte Partys waren verboten, sogar gemischte Hochzeitsfeiern waren verboten. Männer und Frauen sollten in getrennten Räumen feiern.
    Die Pasdaran nahmen alle mit und machten sie fertig. Erst hatten sie Peitschenhiebe angedroht, dann sagten sie, allen würde der Schädel rasiert werden. Den Kopf rasieren war eine beliebte Strafe bei Vergehen aller Art. Aber nicht nur den Jungs, damit jeder sah, dass sie sich sittenwidrig verhalten hatten, sondern auch den Mädchen, damit sie gezwungen waren, ein Kopftuch zu tragen.
    An dieser Stelle fing Pari an zu heulen, und Bita schluchzte laut auf.
    Mir blieb der Mund offen stehen.
    »Ach du Scheiße …«, flüsterte ich.
    »Ich hatte auch noch Kondome dabei«, weinte Bita weiter. »Als die reinkamen, hab ich sie hinter ein Bild an der Wand geschoben, ich hatte solche Angst, wenn sie die gefunden hätten! Die haben uns komplett gefilzt. Dann haben sie unsere Eltern angerufen und gesagt, sie rasieren uns die Köpfe und sie könnten uns abholen.«
    »Und wieso seid ihr dann doch nicht rasiert worden?«
    »Unsere Väter haben sie angefleht, es nicht zu tun, ihnen gesagt, wir wären verlobt und würden bald heiraten und ohne Haare würde uns niemand nehmen. Am Ende haben sie denen eine Menge Geld gezahlt, damit sie uns gehen lassen.« Pari wischte sich die Tränen von der Wange.
    Mann, Mann, Mann, dachte ich, als der Pinguin hereinkam, das muss ja ernsthaft gefährlich gewesen sein, so verstört wie die alle waren. Ich stellte mir vor, was mein Vater mit mir gemacht hätte, wenn er mich dort hätte abholen müssen, und ich bekam im Nachhinein noch Angst. Nicht vor den Pasdaran und nicht vor den angedrohten Schlägen, einfach nur vor dem, was mich bei meinen Eltern erwartet hätte.

    Zwei Wochen später hatte Dee die Ausreise für sich und die Kinder mit dem Bus durch die Türkei organisiert. Sonja und ich hatten unter Tränen voneinander Abschied genommen. Sonja hatte mir fest versprochen, mir aus Ankara sofort zu schreiben.
    Jetzt war ich ganz allein. Was mit Lucie war, wusste ich nicht, einige Monate später hörte ich, dass auch sie mit dem Bus gefahren und schon in Deutschland war. Die blonde Nuttenmutter hatte ihre beiden Kinder vor den Außerirdischen gerettet. Das hätte ich ihr überhaupt nicht zugetraut.
    Kurz vor Weihnachten bekam ich tatsächlich einen dicken Brief von Sonja aus Ankara, in dem sie mir auf zehn Schulheftseiten minuziös von der anstrengenden achtstündigen Busfahrt erzählte und von ziemlich entwürdigenden Szenen an der Grenze. Sie hatten in einem Hotel in Erzurum übernachtet und wollten am nächsten Tag mit dem Zug nach Ankara und dann von dort aus nach Washington fliegen, wo sie mir wieder schreiben wollte.

    An den Weihnachtstagen ging ich wie immer in die Schule, als wären es ganz normale Tage. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben keine Weihnachtsferien, keinen noch so klitzekleinen Baum und keine Geschenke, weil meine Mutter sagte, es wäre lächerlich, jetzt Weihnachtsdeko aufzuhängen. Alle hätten andere Sorgen und wir wären keine Christen, ich sollte mich zusammenreißen.
    Ich riss mich zusammen, aber noch schlimmer als Weihnachten zu ignorieren, war der Neujahrsabend, den ich ganz alleine und möglichst leise in meinem Zimmer verbrachte.
    »Alle feiern, überall auf der ganzen Welt sind Partys, überall wird gesungen, getanzt und gelacht. Nur ich sitze hier ganz alleine in diesem schrecklichen Zimmer in diesem beschissenen Land mit meinen Scheißeltern. Warum muss ich hier sein, obwohl ich nicht will?«, schrieb ich in mein Tagebuch, legte den Stift beiseite und weinte ein

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