Hinter dem Mond
wenig.
In meinem Zimmer war es ganz still, sodass ich das Geschlecke von Mr Molly neben mir als laut empfand. In dieser Silvesternacht 1980 war ich sogar zu unglücklich, um Musik zu hören, zu lesen oder einen Film in den Videorekorder zu schieben. Das hatte ich vorher noch nie gekannt, das lähmende Gefühl, die ganze Welt würde sich ohne mich drehen und ich würde alles verpassen. Ich fühlte mich so, als würde man mich in einer Gefängniszelle festhalten. Ich konnte genauso gut sofort sterben, dachte ich wieder, wie so oft in letzter Zeit. Irgendwann schlief ich ein, und als ich aufwachte, war Donnerstag, ich musste zur Schule, und danach erwartete mich das öde Wochenende und ein schrecklich langweiliger Freitag mit meinen blöden Eltern.
Im Januar, als es in den Bergen endlich genug geschneit hatte, fuhren freitags Minibusse von der Notschule, die die deutsche Botschaft eröffnet hatte, nach Dizin und wir Ausgestoßenen durften mitfahren, obwohl wir nicht mehr zur Schule gehörten. Es waren ja kaum noch Deutsche in Teheran, deshalb waren auch nur sehr wenige Schüler auf der Notschule. Die dicke Gabi aus meiner alten Klasse war eine von den Deutschen, und von uns fuhren Pari, ein Junge namens Arta, der sehr blond und sehr persisch war, Arash aus unserer ehemaligen Jungsklasse und ich mit. Arash war ein schmaler blasser, hochgewachsener Junge mit einer österreichischen Mutter, eigentlich kein Freund von mir, aber jetzt erlaubte ich jedem aus unserer Schule, mit mir zu sprechen, alles war besser als mit Persern abzuhängen. Arash erzählte so lustige Geschichten von den männlichen Pendants der Pinguine, dass ich mich vor Lachen schüttelte. Die bärtigen Männer in den schlecht sitzenden Anzügen redeten fast noch mehr Müll als die Hausfrauen, die man auf uns losgelassen hatte. Die Jungs mussten genau wie wir Arabisch lernen, und der Lehrer hatte ihnen erzählt, es gäbe keine größere Ehre für alle Moslems, als in den Krieg zu ziehen, um gegen den Feind zu kämpfen und sich für den Emam Chomeini zu opfern und somit als Märtyrer in den Himmel zu kommen.
Märtyrer hieß auf Farsi Schahid . Das meistverwendete Wort in den Nachrichten und Propagandareden.
»So einen Quatsch sagen die islamischen Schlampen zu uns nicht«, sagte ich.
»Doch, klar erzählen die das«, rief Pari. »Die sagen das auch! Du kriegst nur nichts mit, weil du nie zuhörst! Mensch, Lilly, wie willst du die Prüfungen ablegen!«
»Quatsch! Ich will aber auch Schahid werden, bitte, wo geht’s lang? Wo kann man sich anmelden? Lilly schahid schod!« Ich lachte breit und dreckig.
Ich stellte mir vor, wie jemand meine Eltern anrufen und mitteilen würde, dass ich für den großen Emam in den Märtyrer-Himmel gegangen sei. Sehr lustig!
»Prüfungen? Haben wir Prüfungen? Ich auch? Was kosten die Prüfungen?« Ich lachte noch dreckiger.
Pari sah genervt aus dem Fenster. Sie konnte meine großkotzige Art nicht ausstehen.
Dizin hatte sich seit dem letzten Winter stark verändert. Es fuhren zwar alle Lifte, und Frauen und Männer fuhren zusammen, aber es ging das Gerücht um, dass es bald getrennte Pisten geben sollte, damit man sich nicht zu sehr vergnügen konnte. In allen Liftstationen hing ein gerahmtes Bild vom Ajatollah, und auch die Leute hatten sich verändert. Die superschicken schönen Frauen in ihren Pelzmützen und engen Skioveralls mit Dior-Brillen waren alle verschwunden. Überhaupt waren sehr wenige Frauen da, dafür viel mehr Männer als früher, und zwar solche, die keine richtige Skiausrüstung besaßen und in einer Stoffhose und einem alten Anorak fuhren. Diese Leute waren früher nur in Ali Abad gewesen, einem relativ flachen, kleinen Skigebiet in der Nähe von Teheran, wo meine Eltern einmal mit mir hingefahren waren, ich es aber wegen des mangelnden Glamours langweilig fand. Und jetzt waren die zerknitterten Anzüge auch im noblen Dizin.
Nach unserem Skiausflug grüßten Arash und ich uns immer nach dem Unterricht auf dem Bushof und redeten ein paar Worte miteinander. Oft sah ich ihn in Begleitung eines anderen hochgewachsenen Jungen, der dichtes, längeres kastanienbraunes Haar hatte, große rehbraune Augen und einen dunklen Flaum über der Oberlippe. Es war Ramin aus unserer ehemaligen Jungsklasse. Er war mir schon früher öfter aufgefallen, weil er unglaublich gut aussah und immer einwandfrei und cool angezogen war, aber er war sehr still, so still, dass es keine Berührungspunkte gab. Ich wusste zwar, dass
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