Hinter dem Mond
endlich und schlossen die Tür. Ich blieb einfach ewig in genau derselben Stellung auf dem Bett liegen und konnte mich vor Schock nicht bewegen. Mein ganzer Körper brannte wie Feuer. Die Haut auf meinen Oberschenkeln war zum Teil weggeschürft, und es bildeten sich langsam überall Striemen in Form von dicken, roten, langen Würsten. Ich weinte nicht, ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, ich wäre woanders. In Deutschland, bei einer netten deutschen Familie, die mich aufgenommen hatte und mit der ich an einem großen Tisch saß und Abendbrot aß. Wir saßen im Garten, auf Gartenmöbeln mit blau-weißen Bezügen, es roch nach Sommer, nach frisch gemähtem Rasen und nach Senfgurke, Aufschnitt und Apfelsaft. Jeder hatte sein Brettchen vor sich. Ich reichte meiner netten deutschen Mutter den Brotkorb mit den drei Sorten Brot. Schwarzbrot, Vollkornbrot und Knäcke.
Die Schule hatte den Brief geschickt, um meine Eltern darüber zu informieren, dass ich in zwei Wochen in der fünften Klasse der Hauptschule weiter die Schule besuchen würde, da meine Eltern keine anderen Wünsche geäußert hatten. Ich hatte vergessen, den verdammten Brief vor den Ferien in der Schule abzugeben, er lag immer noch in meiner Schultasche. Meine Mutter hatte meinen Ranzen ausgeschüttelt, und der weiße Umschlag segelte unschuldig heraus. Dann brüllte sie mich noch einmal ausgiebig an, dass ich nicht nur geistig behindert und faul, sondern auch verschlagen, bösartig und verlogen sei. Ich hätte ja sagen können, dass ich den Brief nicht abgegeben hätte, dann hätte sie sich selbst darum gekümmert. Mich anzufassen traute sie sich nicht mehr, da mein ganzer Körper von dunkelroten Riesenflecken übersät war. Ich sah aus, als hätte mich ein Lastwagen sehr langsam überrollt. Meine Eltern ignorierten es, und ich tat auch so, als wäre nichts, betrachtete aber über zwei Wochen lang interessiert die Einfärbung meines Körpers von Violett zu Grün und dann zu Gelb.
Meine Mutter telefonierte kurz mit der Schule, teilte dem Sekretariat mit, dass ich vergessen hatte, den Brief abzuliefern, und die Angelegenheit war erledigt. Mein Platz in einer vierten Klasse war gesichert.
Erst sehr viele Jahre später fiel mir ein, dass es wohl jeder an ihrer Stelle gleich so gemacht hätte, nämlich die Angelegenheit selbst zu regeln. Sie hatte ja nichts zu tun, keinen Job, kein anderes Kind, keine Verpflichtung. Sie hatte Zeit, ein Auto und sprach perfekt Deutsch und Persisch und hatte sich trotzdem lieber auf ein neunjähriges Kind verlassen. Mich.
2
M eine neue Klasse war eine reine Sitzenbleiber-Klasse. Alle Deppen, die das letzte Schuljahr in den vier vierten Klassen versemmelt hatten, waren hier versammelt. Jetzt gab es kaum Konkurrenz, und das Lern-Niveau blieb schön niedrig. Also genau richtig für mich. Ich war im August zehn Jahre alt geworden, viele meiner Sitzenbleiber-Mitschüler waren schon elf, weil sie erst mit sieben eingeschult worden waren. Diese Klasse war voller Persönlichkeiten. Es gab einen Star, Marco, in den waren alle Mädchen verliebt, also machte auch ich mit, obwohl ich ihn erst blöd fand. Marco war etwas kleiner als ich, hatte einen ziemlich schönen braunen Wuschelkopf und ein hübsches Gesicht. Ansonsten war er ziemlich gewalttätig, sprang so lange auf irgendwelchen Tischen und Bänken herum, bis sie krachend zusammenfielen, oder schlug sich mit einem Jungen, der dann mit Nasenbluten in die Krankenstation musste. In den Pausen spielten wir oft Flaschendrehen mit einer leeren 7 up-Flasche. Alle tranken die ganze Zeit 7 up, Cola oder Fanta. Die Fanta war aber nicht gelb wie in Deutschland, sondern grellorange und schmeckte auch so. Der, auf den der Flaschenkopf zeigte, musste den, der die Flasche gedreht hatte, küssen, und zwar mit Zunge. Aus irgendeinem Grund erwischte es meistens Marco und mich, und er konnte mir so vor versammelter Mannschaft mit seiner kleinen widerlichen Zunge im Mund herumlecken, während die anderen laut grölten. Und plötzlich galten Marco und ich als ein Liebespaar. Meine Aufgabe als Frau Marco bestand darin, ihn bei seinen Prügeleien anzufeuern, ihm danach einen Kuss auf den Mund zu geben und mich von den coolen Mädchen dissen zu lassen. Alles total peinlich, aber unsere Beziehung dauerte zum Glück nur zwei Wochen. Sein bester Freund Alex kam zu mir und sagte mit bedeutungsschwangerem Gesicht, dass Marco jetzt mit Mandana zusammen wäre, als wäre das das Ende der
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