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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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nicht gewohnt, dass meine Eltern mich zu Einladungen mitnahmen. Ich fand es normal, mich abends alleine mit meinem Teddy zu Hause zu fürchten, während sich meine Eltern in Anzug und Abendkleid in einer Parfümwolke von mir verabschiedeten, seit ich vier war.
    »Ja, da kannst du mit. Dein Großcousin heiratet. Da kommen auch Kinder.«
    Ich zeichnete der Schneiderin auf, wie ich das Kleid wollte: mit breiten Trägern, engem Oberteil und einem weiten, langen Rock. Dann stellte ich mir mich selbst auf einem Poster vor, mit Weichzeichner fotografiert in dem Kleid, auf dem Boden sitzend, in einer Ballettpose, und bekam Gänsehaut vor Vorfreude über meinen Auftritt in diesem wundervollen Gewand.
    Als wir mit der Schneiderin alles besprochen und den Termin für die erste Anprobe festgelegt hatten, wollte meine Mutter in das Schuhgeschäft gehen, in dem sie sich ein paar zu einem Kostüm passende Pumps hatte anfertigen lassen, und ihn fragen, ob er auch für mich Schuhe machen könne.
    Der Schuster hatte ganz viele tolle ausländische Magazine. Ich suchte mir ein paar rote Mädchenschnallenschuhe zu meinen neuen Kleidern aus und Schnürschuhe aus braunem Leder, wie sie Laura Ingalls, die kleine Heldin meiner neuesten Lieblingsserie »Unsere kleine Farm« trug.
    Zwei Wochen später hatte ich die neuen Sachen. Ich zog mein neues Millefleurkleid mit dem Unterkleid und dem großen Kragen und die Laura-Ingalls-Schuhe in die Schule an und fühlte mich darin zum Leidwesen meiner Mutter wie ein Filmstar, der zurzeit einen Schulfilm drehen muss.

    Der blasse Jens aus meiner Klasse trug nie Jeans, sondern hatte genau die Hosen an, die meine Mutter gerne an mir gesehen hätte. Er trug spießige graue Stoffhosen und gestreifte Polo-Shirts. Und er hatte immer sauber in Papier eingepackte Butterbrote dabei. Das hatten auch nur die, die zu Hause nichts zu sagen hatten und wie kleine Kinder behandelt wurden. Wir anderen hatten alle immer genug Geld in der Tasche und konnten uns am Schulkiosk kaufen, was wir wollten, was auch eine Art gesellschaftliche Verpflichtung war. Beim Kiosk abzuhängen, sich in der Pause in die Schlange zu quetschen und vom Kioskbetreiber Dudi mit Namen begrüßt zu werden, war einfach die unterste Sprosse der Gesellschaftsleiter eines Zehnjährigen. Aber von alldem blieb Jens völlig ungerührt. Er aß die Brote seiner Mutter und machte seine spießigen Klamotten nicht schmutzig. Als er mir einmal im Weg stand und ich ihn beim Hinausrennen aus der Klasse aus Versehen anrempelte, stolperte und hinfiel, stand ich auf, untersuchte meine ohnehin schon vom vielen Stürzen zerschundenen und schmerzenden Knie, ging zu ihm hin, stellte mich ganz nah vor ihn und riss ihm die Brille vom Gesicht. Er fing sofort an zu schreien:
    »Meine Brille! Spinnst du? Gib die her! Gib meine Brille her!«
    Sein Geschrei kam so quiekend und jämmerlich, dass es mich überraschte und gleichzeitig motivierte. Er fuchtelte vor mir herum und versuchte linkisch, mir die Brille aus der Hand zu reißen. Jens quiekte wie ein ängstliches Schweinchen, bekam einen feuerroten Kopf und war mir überhaupt nicht gewachsen.
    »Schau mal«, lachte ich, warf die Brille auf den Boden und trat mit meinen Sneakers langsam darauf herum und grinste ihn an, während ich die Brillengläser unter meiner Adidas-Gummisohle laut knirschend zerrieb.
    Jens starrte mit hummerfarbener Birne auf den Haufen Scherben und Metall und konnte nicht glauben, was passiert war. Ich rannte weg, hörte ihn aber noch hinter mir laut heulen. Wie kann man wegen einer Brille heulen, das war mir ein Rätsel.
    Natürlich ist der heulende, unbebrillte Jens mit seinem Beweismaterial zu Frau Schimmek gerannt. Frau Schimmek verlor total die Fassung und schrie mich vor der gesamten Klasse an: »Deine Eltern werden das bezahlen! Was bist du für ein schreckliches Mädchen! Zerstörst mutwillig das Eigentum von anderen Kindern!«
    Alle sahen mich an, wie man jemanden ansieht, der bald zum Galgen geführt wird.

    Beim Mittagessen war ich etwas bedrückt und stocherte lustlos in meinem Blumenkohlauflauf herum. Mir wurde erst langsam klar, dass das wohl eine Riesengeschichte werden würde. Jens konnte ohne Brille nichts sehen. Und ich hatte sie einfach zertreten.
    »Mama, wie viel kostet eine Brille?«
    »Kommt darauf an. Papas Brillen sind sehr teuer, weil sie aus Horn sind, aber es gibt auch billige. Warum? Brauchst du eine?«
    »Mama …«
    »Ja? Wieso isst du nichts? Hast du wieder zu viel Mist

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