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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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wehtat. Dann ging alles sehr schnell, er wollte mich wie eine Puppe wieder nach vorne biegen, verlor das Gleichgewicht und fiel, festgeklemmt an meinen Armen, hin und begrub mich unter sich.
    Ich fiel mit dem Gesicht mit voller Wucht auf den grauen Steinboden in unserem Klassenzimmer, da meine Arme ja noch von Andi festgehalten wurden, konnte ich den Fall nicht mit meinen Händen abfedern. Ich lag bäuchlings auf dem Boden, der dicke Andi auf mir, und öffnete einige Zentimeter über dem grauen Stein die Augen: Ich sah sehr viel Blut und ein paar weiße Stückchen darin. Es waren mein Blut und meine Vorderzähne.
    Kurz darauf saß ich blutüberströmt auf der Krankenstation, und eine aufgebrachte Lehrerin versuchte, meiner Mutter am Telefon beizubringen, was eben passiert war. Ich trug an dem Tag, das werde ich nie vergessen, einen knallgelben, engen Rollkragenpullover und einen rotkarierten Schottenrock mit einer Riesensicherheitsnadel an der Seite. Mein Pullover war vorne komplett rot, nur an den Ärmeln sah man noch etwas gelb. Meine Oberlippe hing mir in Fetzen im Gesicht, und es lief mir immer noch Blut aus allen Teilen meiner Mundwerkzeuge. Die Krankenschwester war völlig schockiert und überfordert und drückte mir bloß immer wieder frische Kleenex in die Hand, damit ich das Blut auffangen konnte.
    Irgendwann wurde die Tür endlich aufgerissen, und meine Eltern kamen zusammen durch die Tür gehetzt, sahen sich im Raum um, sahen mich und wurden blass. Meine Mutter fing an zu schwanken, griff nach der Tischplatte und sagte nur heiser: »Was hast du gemacht? Was hast du gemacht? Wer hat das gemacht? Wo ist der Schuldige? Ich werde den jetzt erschlagen, was bist du für ein verwildertes Biest, was hast du gemacht …«
    Sie tröstete mich mit keinem Wort, sie fuhr die Lehrerin und die Krankenschwester an, dass diese Schule ein Schweinestall für Wilde und Verwahrloste sei, ließ einige Schimpftiraden auf die Verantwortlichen ab und beleidigte den Rektor noch einmal ganz explizit.
    Dann schrie sie laut: »Dafür zahlen wir nicht das teure Schulgeld, dass sie unser Kind durch den Fleischwolf drehen!«
    Das Beispiel war ziemlich gut, ich sah genauso aus: frisch durch den Wolf gedrehtes Hackfleisch mit etwas gelber Wolle und schwarzen Haaren dran.
    Mein Vater sagte gar nichts. Ihm stiegen die Tränen in die Augen, und er sagte leise zu der Lehrerin:
    »Oh mein Gott. Sie ist doch ein Mädchen.«
    Er versuchte das blutende, immer mehr anschwellende und blau anlaufende Loch aus rohem Fleisch zu untersuchen, was einige Stunden vorher noch die niedliche Schnute mit den zwei prächtigen weißen Schneidezähnen seiner zehnjährigen Tochter gewesen war.
    Als wir gingen, bestand meine Mutter darauf, in meinem Klassenzimmer den Schuldigen ausfindig zu machen, aber mein Vater sagte, das würde jetzt nichts mehr bringen.
    Wir fuhren nach Hause, wo mir mein Pullover aufgeschnitten werden musste, weil der Rollkragen nicht über mein demoliertes Gesicht passte. Sie reinigten und desinfizierten mich unter lautem Geschrei meinerseits und den Beschimpfungen meiner Mutter. Sie nannte mich eine Wahnsinnige, die sich mit Jungs kloppt, anstatt ein süßes Mädchen zu sein. Sie brauchte eine Erklärung dafür, wie so etwas überhaupt passieren konnte, und die Erklärungen fand sie in meinem nicht entwickelten Verstand und meiner desolaten Psyche.
    Der nächste Tag sollte zu einem der schlimmsten Tage meines Lebens werden. Wir fuhren zu einem befreundeten Zahnarzt meiner Eltern. Mittlerweile war mein ganzer Mund dick geschwollen. Über den Schneidezähnen hatte sich auf meiner zerrissenen Oberlippe eine dicke Kruste gebildet. Der rechte Schneidezahn war fast bis zur Hälfte abgebrochen, dem Linken fehlte eine große Ecke.
    Der Zahnarzt sah sich das Elend an, schüttelte immer wieder schockiert den Kopf und fragte meine Mutter, wie sich ein Mädchen so schlimm verletzen könne.
    Er sagte, bei beiden Zähnen sei der Nerv verletzt und müsse entfernt werden. Dann bekam ich unter lautem Geschrei ein paar Spritzen in mein völlig verwundetes Zahnfleisch, und die Tortur konnte beginnen.
    Sie hielten mich zu viert fest: zwei Zahnarzthelferinnen, meine Mutter und der Arzt, und ich schrie und schlug um mich. Es war der schlimmste Schmerz meines Lebens, sowohl davor als auch danach habe ich Derartiges nie wieder erlebt.
    Der Zahnarzt war einfach ein brutales Arschloch, der mir nichts ersparen wollte.
    Ich blieb eine Woche zu Hause und ernährte mich

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