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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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von Säften und allem anderen, was man durch einen Strohhalm zu sich nehmen konnte. Meine Oberlippe sah immer noch verheerend aus, ich konnte den Mund nicht bewegen und deshalb auch nicht sprechen, lachen oder essen.
    Die ganze Familie kam mich natürlich besuchen und bestaunen, als wäre ich eine Kuh mit mehreren Köpfen. Dabei hatte ich nur einen zerstörten Mund. Meine Großmutter jammerte, ich würde so nun keinen Mann mehr finden, denn wer will schon eine Frau ohne Zähne? Woraufhin meine Muter aggressiv wurde und antwortete: »Sie braucht keinen Mann, außerdem bekommt sie schöne Jacketkronen, wenn sie ausgewachsen ist.« Meine Tante murmelte immer nur, dass sie mich auch so liebte und gerne ihre Zähne für mich opfern würde, und ich zischte: »Nein danke, Tante.«
    Meine stinkende Cousine sagte gar nichts und glotzte nur wie immer mit ihren dummen Kulleraugen, die nichts aussagten außer Leere und Angst.
    Als ich dann endlich mit meinem schwer verwundeten, verkrusteten Mund und den zwei Schneidezahn-Stumpen darin ziemlich abgemagert das erste Mal zurück in die Schule durfte, fühlte ich mich wie ein Soldat nach dem Krieg, dem man aber den heroischen Einsatz für das Vaterland nicht dankt. Die Kinder wichen vor mir zurück, keiner sprach mit mir, und Frau Schimmek war auch sehr komisch. Sehr korrekt und sachlich, aber vollkommen kühl und unherzlich.
    Ich erfuhr später, dass meine Mutter dann doch, während ich apathisch zu Hause an meinem Strohalm hing, in der Schule aufgetaucht und einfach mitten in den Unterricht geplatzt war und laut gefragt hatte, wer Andi sei, woraufhin der sich meldete. Sie war mit klappernden Absätzen durch die Bänke zu ihm gegangen, hatte ihn am Kragen gepackt und ihm rechts und links eine gescheuert, dass es wohl nur so knallte, und dann hatte sie noch Frau Schimmek als liederlich, unfähig und asozial beschimpft. Zuletzt drohte sie mit weiteren Konsequenzen, auch mit der Schließung der Schule, bevor sie, die Klassentür hinter sich zuknallend, abgerauscht war.
    Alle, sogar die Lehrer, hatten jetzt deshalb Angst vor mir und gingen mir aus dem Weg. Der dicke Andi und alle anderen Jungs sahen immer weg, wenn ich in ihre Richtung sah.
    Mich machte das natürlich fertig. Keine Schneidezähne und keine Freunde mehr, das hatte meine Mutter wieder super gemacht.
    Nach ein paar Tagen sozialer Isolation brach ich über meinem Teller mit sehr kleingeschnittenem Fleisch und Kartoffelpüree in Tränen aus.
    »Was ist jetzt schon wieder los?«, fuhr sie mich ungeduldig an.
    »In der Schule reden sie nicht mehr mit mir, weil du so ein Theater gemacht und Andi geschlagen hast«, heulte ich.
    »Na und!«, schnauzte sie mich an. »Wenn Lehrer fremde Kinder nicht beaufsichtigen können, dann muss man ihnen sagen, was sie für Versager sind. Sei froh, wenn keiner von den Asozialen mit dir spricht.«
    »Nein, Mama, ich bin nicht froh, wenn keiner mit mir spricht … ich bin jetzt ganz allein …«
    Durch die Heulerei schwoll mein Mund nur noch mehr an, und der Rotz lief mir aus Nase und Mund, und die Kruste tat entsetzlich weh. Es war alles so schrecklich. Ich wusste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte.
    »Vielleicht kannst du ja am Ende dieses Jahres doch noch auf eine gute persische Schule«, sagte sie wie zum Trost und gab mir zwei Kleenex. »Da sind die Lehrer aufmerksam und die Kinder anständig erzogen und nicht so verwildert. Da prügelt sich niemand.«

    Meine Zeit außerhalb des Unterrichts verbrachte ich nach dem Verlust meiner Schneidezähne fast ausschließlich mit Lesen. Vor allem, als es im Dezember plötzlich kalt und Winter wurde, und ich nicht mehr mit meiner Katze in den Garten konnte. Man hatte mir Provisorien eingesetzt. Meine Oberlippe war komplett vernarbt.
    Meine Eltern hatten ständig Gäste, was meistens so aussah, dass sehr viele langweilige Leute rundherum in unserem Salon saßen, Tee aus kleinen Gläsern tranken und sich non-stop mit Zuckermelonen und anderen Dingen vollstopften, die ihnen meine Mutter und das Hausmädchen auf kleinen goldenen Tellern, die man nicht in die Spülmaschine stellen durfte, reichten. Dann wurden auf unserem riesigen Esstisch Mahlzeiten für ganze Heerscharen von Gästen aufgetischt. Alle setzten sich, aßen und aßen und lobten ständig die vorzüglichen Kochkünste meiner Mutter, obwohl ihr Massume Chanum die Hälfte der Arbeit abgenommen hatte. Alle verdrückten Berge, trotzdem blieb auf den Platten noch genug für eine weitere

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